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Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1

08.04.2019
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Suhrkamp 2018

Mit dem komplexen Zusammenhang von Integrations- und Desintegrationsprozessen in modernen Gesellschaften hat sich Wilhelm Heitmeyer, Gründer und bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, sowohl theoretisch wie empirisch intensiv befasst (Heitmeyer 1997a, 1997b). Insbesondere die Verbreitung und Ausprägungen rechtsextremistischer Einstellungen in Deutschland waren Gegenstand des von ihm koordinierten empirischen Langzeitprojektes „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, dessen Befunde in der zehnbändigen Buchreihe „Deutsche Zustände“ (Suhrkamp Verlag 2002-2011) publiziert wurden. Mit seiner aktuellen Studie schreibt Heitmeyer diese Analysen über Verarbeitungen und Folgen der ökonomischen, sozialen und politischen Krisen bis einschließlich 2017 fort, um damit das Spezifische der heutigen politischen Konstellation gegenüber der Situation der 2000er-Jahre herauszuarbeiten.

In den früheren Analysen – als Referenztext dient ein 2001 erschienener Aufsatz von Loch/Heitmeyer (30 ff.) – bildet die Annahme den Ausgangspunkt, dass die globale ökonomische Integration die Selektionsmacht des Kapitals gegenüber nationalen Wirtschaftsstandorten stärke und, vermittelt über strukturelle Änderungen der Arbeitsmarktbeziehungen, zu einer Schwächung innergesellschaftlicher sozialer Integration führe. Auf politischer Ebene vollziehe sich ein programmatischer Wechsel von wohlfahrtsstaatlicher Verteilungspolitik zu einer wenigstens latent autoritären Sicherheitspolitik. Auf individueller Ebene würden diese Tendenzen von vielen als Kontrollverluste in unterschiedlichen Dimensionen wahrgenommen: eingeschränkte nationalstaatliche Souveränität, sinkender gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Flexibilisierung und Fragmentierung von Beschäftigung, Zunahme anonymer transnationaler Entscheidungsprozesse sowie steigende Kontingenz individueller Lebensführung. Diese Verunsicherungen machten ein erhebliches Potenzial rechtspopulistischer Einstellungen erkennbar, das allerdings in Deutschland noch nicht auf nennenswerte rechtsautoritäre Politikangebote treffe.

Während also die früheren Diagnosen vor dem Aufstieg eines rabiaten Rechtspopulismus warnten, liegt der neuen Studie Heitmeyers die These zugrunde, „dass sich dies tatsächlich ereignet hat und sich heute empirisch zeigen lässt“ (23). Dabei geht es Heitmeyer weniger um eine Bestätigung der Prognosefähigkeit soziologischer Analysen als vielmehr um die Plausibilität einer Zeitdiagnose, die in spezifischen Interdependenzen zwischen ökonomischem, politischem und sozialem System die Signaturen eines sich ausbreitenden Autoritarismus erkennt. Unter Rückgriff auf unterschiedliche theoretische Perspektiven beruht die Argumentation des Bandes durchgehend auf einem dreistufigen Untersuchungsansatz, der sich zunächst mit Entwicklungen auf der Strukturebene befasst, in einem zweiten Schritt Formen der individuellen Verarbeitungen der strukturellen Umbrüche untersucht und schließlich die ideologischen und organisatorischen Angebote autoritärer Bewegungen und Parteien behandelt. Fast die Hälfte des Bandes widmet Heitmeyer einer Erläuterung der für die aktualisierten Strukturanalysen herangezogenen theoretischen Zugänge. Dazu gehören Unterscheidungen von Formen des Autoritarismus, teils als Reaktionsformen auf eine zunehmende modernitätsbedingte Ambivalenz (78 ff.), teils hervorgerufen von der Dynamik eines autoritären Kapitalismus, der über Mechanismen wie Landnahme, ökonomische Dominanz und Ökonomisierung des Sozialen immer tiefer in alle Lebensbereiche eindringt (118 ff.). Ein besonderes Gewicht nimmt die Theorie der sozialen Desintegration ein (146 ff.), die den Zusammenhang von Desintegrationsängsten und Anerkennungsdefiziten – gerade auch in der gesellschaftlichen Mitte – und autoritären Reaktionen untersucht. Schließlich fördern Phänomene der Demokratieentleerung – wie Lobbyismus, vermeintliche Alternativlosigkeit im politischen Angebot und Repräsentationsdefizite – eine Verschiebung von Gefühlen der Machtlosigkeit in eine ideologische Abwertung schwächerer Gruppen (177 ff.).

In der empirischen Zusammenführung von Einzelanalysen und Erhebungsdaten bis 2011 ergibt sich einerseits, dass die rechtspopulistischen Einstellungen, denen sich der Erfolg von Pegida und AfD nach 2015 verdankt, schon etliche Jahre zuvor verdeckt vorhanden waren; andererseits erhärtet sich die Annahme, der zufolge diese Einstellungen besonders häufig Personen aufweisen, die sich von Kontrollverlusten und Desintegrationsängsten betroffen sehen (197 ff.). Zwar entsteht die Attraktivität autoritärer Versuchungen nicht unmittelbar aus Prozessen ökonomischer Entwertungen, sondern immer über auch kulturell vermittelte Formen individueller Krisenverarbeitung, aber der in Teilen der Bevölkerung bisher überwiegend ungebundene Autoritarismus „hat durch den autoritären Nationalradikalismus der AfD ein neues politisches ‚Ortsangebot’ bekommen“ (237). Dabei hat die Flüchtlingsbewegung 2015/2016 lediglich als Beschleunigungsfaktor und nicht als Ursache gewirkt.

Heitmeyer entwirft in diesem Zusammenhang ein sehr differenziertes Profil dieser Partei, die – ohne schon faschistisch zu sein – zwischen oberflächlichem Rechtspopulismus und militantem Rechtsextremismus changiert (231 ff.). Es ist vor allem die Kombination dreier Merkmale – Einstellungen ihrer Anhänger, programmatische Aussagen und Mobilisierungsstil – die sich mit der geläufigen Kennzeichnung der AfD als rechtspopulistisch nicht mehr ausreichend fassen lässt. Bei Einstellungen und programmatischen Botschaften dominieren dichotomische Gesellschaftsbilder vom Typus ‚Volk vs. Eliten’ und Abwärtsvergleiche zu Lasten von Fremden, verknüpft mit dem Versprechen der Wiederherstellung einer verloren geglaubten Ordnung. Die Mobilisierung funktioniert hauptsächlich über eine Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme, die gezielt auf über Wut vermittelte Agitationspraktiken setzt und semantisch den Bereich des Sagbaren im Sinne eines latent gewaltaffinen Autoritarismus erweitert. Schließlich operiert die AfD kommunikativ wesentlich geschickter als alle Vorgängergruppierungen in einem mittlerweile gut vernetzten rechten Milieu, das Verlautbarungen auf Parteiebene durch Zusammenarbeit mit einschlägigen publizistischen Akteuren und Bewegungen wie der Pegida ergänzt und unterstützt.

Resümiert man Heitmeyers aktuelle Diagnose, dann stellen vor allem die sozialen und politischen Unterströmungen, die den Aufstieg der AfD begleiten, eine Gefahr für die liberale gesellschaftliche Ordnung dar. Die sich dabei abzeichnenden Normalitätsverschiebungen machen Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit für viele mindestens latent akzeptabel und begünstigen mittlerweile europaweit den autoritären Nationalradikalismus als politisches Aufstiegsmodell (368 ff.). Strukturelle Auslöser sind langfristige Entwicklungen kapitalistischer Landnahme, beschleunigter Globalisierung und sozialer Desintegration, auf die politische Eliten bisher lediglich teils aktionistisch, teils symbolisch reagiert haben. Und nahezu vollständig von der Politik unterschätzt werden sozialräumliche Disparitäten – innerstädtische Gentrifizierungen oder ökonomische Abkoppelungen ländlicher Räume – die vielfach als Einfallstor für autoritäre Versuchungen fungieren.


Literatur

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (1997a): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Band 1. Frankfurt a. M. Suhrkamp

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (1997b): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2. Frankfurt a. M. Suhrkamp

Loch, Dietmar/ Wilhelm Heitmeyer (2001): Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen. In: Dies. (Hrsg.): Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien. Frankfurt a. M. Suhrkamp, S. 497-534

 

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