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María do Mar Castro Varela / Paul Mecheril (Hrsg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart

29.05.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Bielefeld, transcript Verlag 2016

Zwei Fragen stehen in diesem Sammelband im Mittelpunkt: „Wie kann Gewalt thematisiert werden, ohne dass diese Praxis selbst zu einer unangemessenen Gewalt wird?“ (13) Warum lösen die aktuellen Migrationsbewegungen in Europa ein altes Muster der Imagination des Fremden als Feind aus? Es soll in den Beiträgen also darum gehen, die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die durch die Flüchtlingsbewegungen ausgelöst worden sind, zu erfassen. María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril konnten 18 Autor*innen verschiedener Disziplinen gewinnen, die das Thema aus mehreren Blickwinkeln beleuchten.

Die Herausgeberin und der Herausgeber betonen im Vorwort: „Das Sprechen über ‚Flüchtlinge‘ und ‚Migranten‘ [hat] zunehmend den Modus einer Dämonisierung (imaginierter) Anderer angenommen, welche funktional für die vermeintliche Legitimität der Zurückweisung der [...] Ansprüche dieser Anderen ist“ (15). Dabei stelle vor allem „der Dämonisierungsdiskurs einen effizienten Legitimierungsdiskurs für Sicherheit durch ein Mehr an gewaltvoller Ausgrenzung und Marginalisierung dar“ (19). Dieser Diskurs sei indes keine moderne Erscheinung: „Wir sind heute insofern nicht konfrontiert mit einem neuen Diskurs, sondern mit dem wirkungsreichen und sozusagen altbekannten kolonialen Zivilisierungsdiskurs im neuen Gewande.“ (22)

Diese These untermauert Schirin Amir-Moazami mit Blick auf die „muslimische Frage“ in Europa und verweist dabei korrekt auf die externe Zuschreibung des Markers „islamisch“: „Eingewanderte ebenso wie deren Nachfolgegenerationen aus islamisch geprägten Gesellschaften werden nahezu unweigerlich als Muslime markiert. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen sich zu dieser Anrufung verhalten.“ (30) Die Zwänge dieses Sich-Verhaltens zur Fremdzuschreibung seien Integrationshindernisse, die verstärkt würden durch die in der Aufnahmegesellschaft weit verbreitete Auffassung, dass nicht Integration, sondern Assimilation gefordert sei. Micha Brumlik kommt mittels eines historischen Rückgriffs – ausgehend von der Analyse der historischen Dämonisierung der europäischen Juden – zu dem Schluss: „Daran wird nun deutlich, was ‚Dämonisierung‘ – mutatis mutandis – im aktuellen Kontext heißen kann: die unausgesprochene Festschreibung und Generalisierung durchaus zu verurteilender, sich massenhaft addierender Handlungen von Einzelnen auf das ‚Wesen‘ ihrer Kultur, verbunden mit der Annahme, dass es kaum möglich ist, sich dieses Wesens zu entledigen.“ (83) Auch Paul Mecheril und Monica van der Haagen-Wulff betrachten die Funktion der Dämonisierung: „Heteronormativ-rassistische Macht- und Begehrensordnungen werden affektlogisch stabilisiert, indem der Andere als Bedrohung [...] angerufen wird“ (201).

Maria do Mar Castro Varela betont die Gefahren, die mit den Folgen der Dämonisierung und dem Ruf nach mehr Sicherheit einhergehen: „Im Namen der geheiligten Sicherheit scheint es dabei keine (moralischen) Grenzen zu geben. Paradoxerweise wird so auf dem Altar der Sicherheit die Demokratie selbst geopfert.“ (103) Ihr provokantes Fazit lautet, dass mit den Anschlägen der vergangenen Monate ein Terror, der von Europa ausgehe, nun lediglich zurückkehrt sei. Solange „sich die westliche Welt nur als Opfer von Terror sieht und nicht die Verantwortung für den Terror übernimmt, den sie tatsächlich sät und in der Vergangenheit über den gesamten Globus gebracht hat, solange kann nicht damit gerechnet werden, dass wir auch nur einen Fußbreit mehr an Sicherheit gewinnen“ (110). Nikita Dhawan sieht dabei eine griechisch-römische Tradition der Selbst-Überhöhung Europas und des Eurozentrismus am Werk, im Rahmen der Krise werde sich entsprechend wieder in alte Selbstversicherungen geflüchtet. Naika Foroutan geht noch einen Schritt weiter und untersucht die sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen europa- und weltweit ausbreitenden national-konservativen, völkischen, populistischen und xenophoben Entwicklungen. Dabei wendet sie sich gegen die Formulierung, dass man „die Ängste der AfD-Anhänger ernst nehmen“ müsse; vielmehr plädiert sie dafür, dass „man [...] die Unwissenheit der Bevölkerung ernst nehmen [muss]“ (168).

In einigen Beiträgen wird zudem die konkrete Situation der Flüchtlinge in den Mittelpunkt gestellt. So betonen Inci Dirim, Alisha M. B. Heinemann, Natascha Khakpour und Doris Pokitsch vom Arbeitsbereich für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien zwar die Bedeutung der Sprachaneignung im Einwanderungsland, weisen aber darauf hin, dass es bei der Realisierung dieser Grundlagen verschiedene Theorien, Konzepte und Methoden gibt. Carmen Mörsch kritisiert außerdem wohlmeinende Aktionen, bei denen den Geflüchteten eine bestimmte Rolle (nämlich die des Opfers) zugewiesen wird. Sie fordert: „Kultur und Bildung [...] sollen den Kampf gegen Ungleichheit unterstützen und Privilegien umverteilen, anstatt diese zu bestätigen und zu reproduzieren“ (293).

Astrid Messerschmidt beschäftigt sich mit der Kölner Silvesternacht und deren Folgen und warnt: „Ein Mittel zur Verbreitung von Ressentiments besteht in der Behauptung von Schweigegeboten und Tabus“ (271). Einen Blick in die nahe Zukunft wirft Meltem Kulaçatan und prophezeit in ihrem Aufsatz, „dass Rassismus und Sexismus zunehmen werden und dass die humanitären Anliegen von Geflüchteten weiterhin größtenteils ignoriert werden“ (186). Formuliert wird daher die Forderung nach einem individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen „Einsatz wider die Angst und für den Schutz derjenigen, deren Seelen und Körper durch den Rassismus verletzt werden“ (187).

Der Sammelband kann durchaus als Streitschrift verstanden werden, ist allerdings aufgrund der dichten Formulierungen und Schachtelsätze bisweilen schwer verständlich. Er empfiehlt sich daher nicht als Einstiegslektüre, sondern bietet eine weitere Perspektive auf den Themenkomplex.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie


Fatima El-Tayeb

Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft

Bielefeld: transcript Verlag 2016; 252 S.; 19,99 €; ISBN 978-3-8376-3074-9
Wäre die deutsche Gesellschaft tatsächlich postmigrantisch, dann würde das jenseits von Multikulturalitätsrhetoriken dominierende „eklatante Weißsein“ (23) nicht weiterhin eine echte Integration des Anderen verunmöglichen. Wo also steht die deutsche Identität heute, in einer Welt, in der die einzige Stabilität darin zu bestehen scheint, dass Stabilitäten und Gewissheiten immer und immer wieder ausgehebelt werden? Fatima El‑Tayeb zeigt in ihrer Studie für die Zeit ab 1989, dass wesentliche Teile deutscher Identität mit einer Konstruktion von Fremdheit ...weiterlesen


Miltiadis Oulios

Blackbox Abschiebung. Geschichte, Theorie und Praxis der deutschen Migrationspolitik

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015 (edition suhrkamp); XXVIII, 484 S.; erw. Neuausgabe; 16,- €; ISBN 978-3-518-07253-0
Dass das Buch von der Aufmachung bereits dem ähnelt, was man sich gemeinhin unter einer Blackbox vorstellt, weist schon auf dessen vielschichtige Entstehung hin. Hervorgegangen ist es aus einem gleichnamigen Projekt, in dessen Rahmen eine Ausstellung und der Film von Ralf Jesse mit dem Titel „Die Geduldeten“ realisiert wurden. Das Buch steht also in einem größeren Zusammenhang, der vor allem eines will: Sichtbarkeit herstellen, wo aus strategischen Gründen bislang Unsichtbarkeit geherrscht hat. „Abschiebungen als Teil der Migrationspolitik passen nicht ...weiterlesen


Gesine Drews-Sylla / Renata Makarska (Hrsg.)

Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989

Bielefeld: transcript Verlag 2015 (Kultur und soziale Praxis); 330 S.; kart., 29,99 €; ISBN 978-3-8376-2364-2
Lange Zeit war in west‑ wie osteuropäischen Gesellschaften die Vorstellung prägend, sich vom Rassismus befreit zu haben. „Das Problem Rassismus wurde entweder in der Vergangenheit bzw. außerhalb der eigenen Gesellschaft […] verortet.“ Genau darin sehen die Herausgeberinnen „eines der Grundprobleme rassistischen Denkens“. Erst in den 1990er‑Jahren, als Europa verstärkt und immer wieder von Rassismus betroffen war, setzte sich die Erkenntnis durch, dass dieser in einer Vielzahl von neuen, sich teils überlagernden ...weiterlesen

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