Skip to main content

Sabine Selchow: Negotiations of the „New World“. The Omnipresence of „Global“ as a Political Phenomenon

08.05.2017
1 Ergebnis(se)
Autorenprofil
PD Dr. phil. Matthias Lemke
Bielefeld, transcript Verlag 2016 (Global Studies)

Eine neue Welt wird ausgehandelt
Über die Allgegenwärtigkeit des Adjektivs ‚global‘

‚Global‘ ist mehr als ein Adjektiv. Diese simple Feststellung liefert den Ausgangspunkt für Sabine Selchows englischsprachige Dissertation, in der sie dem Eindruck auf den Grund zu gehen versucht, warum das Adjektiv ‚global‘ in jüngerer Vergangenheit in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten zunehmend häufiger auftritt und was dieses gehäufte Auftreten zu bedeuten hat. Für Selchow, die ihr spannendes, explorativ angelegtes Vorhaben in den „unconventional studies“ (22) der Sozialwissenschaften und dort zwischen politischer Diskursanalyse und Theorien der Internationalen Beziehungen einordnet, repräsentiert das Adjektiv ‚global‘ ein politisch relevantes Netz von Bedeutungen, das sie als „new world“ (11) bezeichnet. Ihre Konzeptualisierung dieses Netzes, das seit dem Beginn der 2000er-Jahre deutungsmächtig wurde, beruht auf zwei Säulen: Zunächst ist dies die unmittelbare Bezugnahme auf ‚Globalisierung‘. Das Adjektiv ‚global‘ nimmt auf deren Konsequenzen Bezug, indem es Globalisierung als einen neuen, innovativen und positiv besetzen Prozess beschreibt: „global schließt ‚Globalisierung‘ mit ein“ (136). Zudem drückt es den Umstand aus, dass Globalisierung sich als Ablösung einer alten durch eine neue Ordnung in der Welt bereits vielfach ereignet hat und weiterhin ereignet. Vor diesem Hintergrund erweist sich ihr Verständnis von ‚global‘ und ‚Globalisierung‘ als wesentlich weitreichender als bestehende Konzeptionen, die den Begriff häufig auf wirtschaftliche und hier insbesondere auf neoliberal inspirierte Veränderungen verengen.

Um die Spezifika des politischen Diskurses, wie er sich um die „Omnipräsenz“ (134) des Adjektivs ‚global‘ entspinnt, rekonstruieren zu können, nimmt Selchow nicht nur politikwissenschaftliche Debatten in den Blick. Neben der Theoretisierung des Verhältnisses von Sprache und sozialer Wirklichkeit sowie des Begriffs der Globalisierung, die sie in wesentlichen Teilen an Ulrich Beck orientiert, zieht sie auch zahlreiche Verlautbarungen aus dem politischen Alltagsbetrieb selbst heran. Neben Reden von US-Präsidenten – paradigmatisch und systematisch ausgewertet am Beispiel von Barack Obama in Kapitel 7, hierzu später mehr – kommen auch Vertreter internationaler Organisationen zu Wort. Dazu zählt etwa Kofi Annan, der als UN-Generalsekretär im Jahr 2000 feststellte: „This system worked and made it possible for globalization to emerge. As a result we now live in a global world“ (135). Annans Aussage steht hier, so Selchow, als pars pro toto einer „symbolischen Produktion“ (142) politischer Wirklichkeit. In dieser ist die neue Welt infolge der Globalisierung eine globale. Die Beschreibung eines Sachverhalts verhält sich dabei nicht neutral zur sozialen beziehungsweise politischen Wirklichkeit. Sprache konstituiert Wirklichkeit. In dem Moment, in dem verschiedene Beschreibungen sozialer oder politischer Wirklichkeit konkurrieren, entfaltet sich ein „Kampf über die Bedeutung der Welt“ (143). In dem Maße, in dem – mit Bourdieu gesprochen – Spitzenpolitiker über ein besonders hohes Maß verschiedener Kapitalien verfügen, kommt ihnen eine Schlüsselstellung bei der Konstruktion von Wirklichkeit zu.

Für Selchows Umgang mit der Rekonstruktion der Konstruktion von Wirklichkeit verdient ihre Analyse der Reden Barack Obamas eine besonderen Erwähnung, weil das betreffende Kapitel zeigt, wie ihre Analysestrategie mit empirischem Material funktioniert – und wo Chancen und Grenzen genau dieses Vorgehens liegen. Als Grundlage der Analyse dienen ihr alle von Obama im Jahr 2013 veröffentlichten Papiere. In den 158 Dokumenten taucht nach ihrer Zählung das Adjektiv ‚global‘ 333-mal auf. 37 Verwendungen stehen im Zusammenhang mit Eigennamen von Institutionen oder anderen Akteuren und sind in diesem Sinne nicht bedeutungstragend. So bleiben 296 bedeutungstragende Verwendungen für die Analyse übrig. Für diese 296 Verwendungen differenziert Selchow aus, in welcher Art von Papier oder Publikation sie stehen, allerdings ohne substanziell deutlich zu machen, worin der Unterschied einer Erwähnung in einem Memorandum oder einer Weekly Address besteht. Die eigentliche inhaltliche Interpretation, also das, was sich in Anlehnung an Franco Moretti als close readin‘ bezeichnen lässt – ein Term, den Selchow auch benutzt, ohne dessen Namen zu erwähnen –, bezieht sich dann nur noch auf einen einzigen Textabschnitt, genau genommen auf einen Satz: „And I’m calling on Congress to help us set up 15 institutes; global centers of hightech jobs and advanced manufacturing around the country.“ (190) Dieser verdeutliche drei inhaltliche Dimensionen der Verwendung des Adjektivs ‚global‘, wie es die Obama-Administration vorgenommen habe: staatliche Handlungsfähigkeit, Wünschbarkeit der Ansiedlung von Spitzentechnologie und entsprechender Arbeitsverhältnisse sowie die zeitliche Verwobenheit von vergangenen, derzeitigen und künftigen politischen Herausforderungen. Die Schwierigkeit der Beurteilung dieser Ergebnisse liegt auf der Hand, wenn man sich verdeutlicht, dass hier ein einziger Satz für das Korpus eines ganzen Jahres sprechen soll. Die Grenzen der Aussagekraft der Analyse werden auch noch an anderer Stelle deutlich, wenn Selchow die Häufigkeit der Begriffsverwendung analysiert. Hierzu hat sie zwei weitere Datensätze gesammelt: einen, der alle Dokumente US-amerikanischer Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt enthält, in denen mindestens einmal das Wort ‚global‘ vorkommt, und einen, in dem sie nach gleichem Muster alle Dokumente eines Teils der Regierungszeit Obamas (für die Jahre 2009 bis 2015) zusammengestellt hat. Beide Frequenzanalysen zeigen – einmal in absoluten Zahlen, einmal in relativen –, dass die Verwendung des Begriffs stetig zunimmt und in der Regierungszeit Obamas ihren Höhepunkt erreicht. Da eine Frequenzanalyse jedoch keinen Rückschluss auf die inhaltliche Verwendung zulässt, ist die Aussagekraft dieser Aufstellungen indes sehr limitiert.

Was also bleibt? Die neue, seit Beginn der 2000er-Jahre vorherrschende Bedeutung von ‚global‘ ist nach Selchow also Ergebnis beziehungsweise Folge (im Original: „outcome“) von Globalisierung. An der Triftigkeit dieses Befundes kann kaum ein Zweifel bestehen, denn die Analyse hinterlässt in jedem Fall den Eindruck, gründlich durchgeführt worden und in sich stimmig zu sein. Was jedoch bleibt, ist ein – vielleicht nicht ganz unerheblicher – Zweifel hinsichtlich des möglichen Spielraums der Interpretation dieses Befundes. Mit anderen Worten: Es scheint durchaus angebracht, dem Adjektiv ‚global‘ für die vergangenen gut fünfzehn Jahre eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich mit derjenigen Selchows deckt, wenn damit gemeint ist, dass politische Entscheider diese Bedeutung kommunizieren. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass deren gewollte und kommunizierte Verwendung auch Eingang in die politische Öffentlichkeit gefunden hat, mithin also deutungsmächtig geworden ist. Insofern müsste Selchow ihren Befund einschränken: „‚Global‘ als politisches Phänomen“ (200) in dem von ihr intendierten Sinne repräsentiert das politisch-kommunikative Netz eines Elitendiskurses, der nicht notwendigerweise auch umfassend politisch wirksam werden muss. Kommt es, wenn es gilt, die Wirkungsmächtigkeit von Ideen zu untersuchen, eigentlich primär darauf an, was die politisch Verantwortlichen sagen? Oder gilt es nicht vielmehr zu prüfen, was von diesen Ideen tatsächlich in alltägliche Diskurse der politischen Öffentlichkeit Einzug hält?

Hieraus folgt letztlich eine Methodenkritik an Selchows Untersuchung. Das, was sie am Ende von Kapitel 6 andeutet, nämlich eine auf Text-Mining-Verfahren basierte Analyse politischer Öffentlichkeit, hätte in der Tat auch durchgeführt werden müssen, um ermessen zu können, inwiefern der von ihr plausibel rekonstruierte Bedeutungszusammenhang des Adjektivs ‚global‘ nicht nur behauptet, sondern in einer breiten politischen Öffentlichkeit auch manifest geworden ist.

 

Neueste Beiträge aus
Außen- und Sicherheitspolitik
  • Biblio Link Anton Hahn / 28.03.2024

    Richard English: Does Counter-Terrorism Work?

    Der Terrorismusforscher Richard English fragt, ob (und wann) Terrorismusbekämpfung funktioniert. Unter Rückgriff auf drei Fallkonstellationen aus seiner 2016 erschienenen Vorgängerpublikation „Do...
  • Biblio Link Jakob Kullik / 14.03.2024

    Brendan Simms: Die Rückkehr des Großraums? Carl-Schmitt-Vorlesungen, Band 6

    Der Historiker Brendan Simms befasste sich im Oktober 2023 in einer nun als Buch erschienenen Vorlesung mit dem Großraumkonzept Carl Schmitts. Seine These lautet dabei: Indem Großraumvorstellungen R...
  • Biblio Link Michael Rohschürmann / 07.03.2024

    Sebastian Sons: Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss

    Sebastian Sons beschreibt die ‚Zeitenwende‘ der Golfstaaten, ihrer Gesellschaften und Eliten: Ambitioniert, geopolitisch flexibel, widersprüchlich und autoritär – so verlangten die an Einfluss...

Aus der Annotierten Bibliografie

Georg Auernheimer

Dimensionen der Globalisierung. Eine Einführung

Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2015 (Studium); 319 S.; 12,80 €; ISBN 978-3-7344-0082-7
Was kennzeichnet die heutige Globalisierung und handelt es sich dabei um etwas prinzipiell Neues? Von dieser Fragestellung ausgehend bietet Georg Auernheimer eine grundlegende und – so viel gleich vorweg – äußerst gelungene Einführung in das Thema. Sein Ziel ist es, Diskussionen anzustoßen und ein Problembewusstsein für die Folgen der Globalisierung zu wecken. Anders als der Reihentitel vermuten lässt, wählt er keinen streng politikwissenschaftlichen Zugang, sondern widmet sich aus einem offenen Blickwinkel verschiedenen Phänomenen, Entwicklungen und ...weiterlesen


Helmut Willke

Demokratie in Zeiten der Konfusion

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2131); 175 S.; 14,- €; ISBN 978-3-518-29731-5
Die Ursache von „Konfusion“ sieht Helmut Willke darin, dass „zwei fundamentale Transformationen – Globalisierung und Wissensgesellschaft – konvergieren und eine globale Hyperkomplexität erzeugen, die Ausgangs‑ und Brennpunkt der Konfusion ist“ (8). Willke, Professor für Global Governance in Friedrichshafen, beobachtet eine Überforderung der Demokratie, die er auf die Deregulierung in vielen Lebensbereichen sowie den Untergang des Sozialismus und die damit ...weiterlesen


Martin Albrow

Global Age Essays on Social and Cultural Change

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2014 (Recht als Kultur 5); 250 S.; kart., 23,90 €; ISBN 978-3-465-04211-2
Mit seinem 1996 erschienenen Werk „The Global Age: State and Society beyond Modernity“ ist der britische Soziologe Martin Albrow bereits früh zu einer prominenten Gegenstimme gegen den alles umfassenden und erklären wollenden Begriff der Globalisierung geworden. Mit dieser Essaysammlung stellt der Autor bisher unveröffentlichte Texte aus zwanzig Schaffensjahren zu dem von ihm geprägten Gegenkonzept zur Globalisierung – dem „Global Age“ – vor. Für Albrow stellt...weiterlesen

Neueste Beiträge aus
Außen- und Sicherheitspolitik
  • Biblio Link Anton Hahn / 28.03.2024

    Richard English: Does Counter-Terrorism Work?

    Der Terrorismusforscher Richard English fragt, ob (und wann) Terrorismusbekämpfung funktioniert. Unter Rückgriff auf drei Fallkonstellationen aus seiner 2016 erschienenen Vorgängerpublikation „Do...
  • Biblio Link Jakob Kullik / 14.03.2024

    Brendan Simms: Die Rückkehr des Großraums? Carl-Schmitt-Vorlesungen, Band 6

    Der Historiker Brendan Simms befasste sich im Oktober 2023 in einer nun als Buch erschienenen Vorlesung mit dem Großraumkonzept Carl Schmitts. Seine These lautet dabei: Indem Großraumvorstellungen R...
  • Biblio Link Michael Rohschürmann / 07.03.2024

    Sebastian Sons: Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss

    Sebastian Sons beschreibt die ‚Zeitenwende‘ der Golfstaaten, ihrer Gesellschaften und Eliten: Ambitioniert, geopolitisch flexibel, widersprüchlich und autoritär – so verlangten die an Einfluss...