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Richard von Weizsäcker

Vier Zeiten. Erinnerungen

Berlin: Siedler Verlag 1997; 480 S.; Ln., 49,90 DM; ISBN 3-88680-556-5
In der Biographie von Weizsäckers vereinen sich in geradezu idealtypischer Weise das Persönliche und das Öffentliche, das Familiäre und das Politische, individuelle Handlung mit geschichtlichem Ablauf. Insofern sind seine Erinnerungen treffend mit "Vier Zeiten" umschrieben, da sie nicht nur persönliche Rückblende, sondern in weiten Teilen auch allgemeine Darstellung und Rekapitulierung wesentlicher Teile deutscher Geschichte sind. Die vier Zeiten werden aber keinesfalls gleichmäßig vorgestellt. Während Weimarer Republik und Nationalsozialismus jeweils etwa vierzig Seiten umfassen, enthält der Hauptabschnitt "Teilung Europas und Deutschlands in der bipolaren Welt" über 260 Seiten, wohingegen "Vereinigung" mit etwas über hundert Seiten den Abschluß bildet. Von Weizsäcker setzt die aus seiner Lebenserfahrung wichtigen Schwerpunkte. Die Schilderung familiärer Prägungen steht neben mehr oder weniger überblicksartigen Darstellungen geschichtlicher Ereignisse. Eindeutiger Schwerpunkt liegt allerdings auf der politischen Laufbahn. Die Tätigkeit in der Wirtschaft wird nur kurz erwähnt, obwohl sie 15 Jahre seines Lebens bestimmte. Besonderen Wert legt von Weizsäcker hingegen auf den prägenden Einfluß seiner Arbeit in der Evangelischen Kirche. Die Deutschland- und Ostpolitik stand im Zentrum sowohl der konzeptionellen wie praktischen Arbeit von Weizsäckers. Seine zustimmende Haltung bei der Verabschiedung der Ostverträge und das Engagement für die Aussöhnung mit Polen (die ihn innerhalb der CDU/CSU fast isolierte und ihn zu Austrittsüberlegungen veranlaßte) erhalten durch die Schilderung der persönlichen und moralischen Perspektive eine authentische und eindrucksvolle Begründung. Erkennbar wird, daß von Weizsäcker seinen Erinnerungen in der Rückschau einen deutlichen roten Faden einwebt. Es ist das politische Engagement aus geschichtlicher Verpflichtung und ethischer Haltung, das zum Leitmotiv der Lebensgeschichte wird und sich in der Rede zum 8. Mai 1985 spiegelt, die Weizsäcker als "die politischste und zugleich die persönlichste meiner Amtszeit" (323) kennzeichnet. In der Tat lesen sich die Erinnerungen in großen Teilen wie eine Explikation dieser Rede - Weizsäckers Stil, der neben einer Vielzahl wohlformulierter rhetorischer Fragen durch eine zurückhaltende und abwägende Wortwahl geprägt ist, unterstützt diesen Eindruck zusätzlich. Zu diesem Stil gehört auch, daß es praktisch überhaupt keine klare Benennung politischer Konflikte gibt. Durchgängig werden Probleme schon vor 1984 aus einer überparteilichen, fast schon präsidialen Perspektive geschildert. Die härteste Ausdrucksform, die sich in Weizsäckers Erinnerungen findet, ist die Nicht-Erwähnung. So wird sein Verhältnis zu anderen Politikern (egal welcher Partei sie angehören) durchaus in positiven Worten dargestellt und allein über den Raum, der auf die Würdigung ihrer jeweiligen Vorzüge verwandt wird, läßt sich eine Abstufung feststellen. Von besonderem Interesse ist dabei natürlich die Schilderung Kohls, der zwar gerade im Zusammenhang mit seinen Leistungen zur Wiedervereinigung gelobt wird, aber doch mit sehr knappen Worten. Kritik wird ebenfalls nur sehr zurückhaltend geübt, so in bezug auf die Nichterwähnung der Garantie der Oder-Neiße-Grenze in Kohls Zehn-Punkte-Plan: "Kohl hatte die Grenzfrage international eskalieren lassen, was aus psychologischen außenpolitischen Gründen besser unterblieben wäre." (375) Das Kapitel "Zusammenarbeit zwischen Kanzler und Präsident" ist ebenso sachlich-institutionell gehalten und umfaßt gerade eineinhalb Seiten. Von Weizsäcker beschreibt die Aufgabe des Präsidenten damit, "unabhängig und überparteilich Fragen zu stellen, Anregungen zu geben, den demokratischen Konsens zu fördern und vor allem zur langfristigen Orientierung in der Gesellschaft beizutragen" (422). Genau dies ist auch Tenor und Aufgabe seiner Erinnerungen. Deshalb ist das Buch nicht nur rückschauende Autobiographie, darstellendes Geschichtsbuch, sondern auch die Niederlegung eines Vermächtnisses.
Manuel Fröhlich (MF)
Prof. Dr., Juniorprofessur für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.manuel-froehlich.de).
Rubrizierung: 2.3 | 2.31 | 2.32 | 2.331 Empfohlene Zitierweise: Manuel Fröhlich, Rezension zu: Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Berlin: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/4622-vier-zeiten_6646, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 6646 Rezension drucken