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Jacques Rancière

Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard. Hrsg. von Peter Engelmann

Wien: Passagen Verlag 2015; 156 S.; 2., überarb. Aufl.; 19,90 €; ISBN 978-3-7092-0161-9
Der Band – die französische Erstauflage erschien 2008 – enthält fünf aus unterschiedlichen Anlässen entstandene Essays, in denen Jacques Rancière Fragen der Autonomie von Kunst und ästhetischer Erfahrung in einer Weise nachgeht, die deren politische Implikationen in vielfach überraschenden Wendungen offenlegt. Im Titelaufsatz entwirft er ebenso provokativ wie anregend den Kontrast zwischen der „verdummenden Pädagogik“ einer Theaterpraxis, die ihr Publikum von der vermeintlichen Passivität des bloßen Zuschauens befreien möchte, und der Idee des emanzipierten Zuschauers. Dieser nämlich entzieht sich der vorgegebenen Unterscheidung von Aktivität/Passivität und weiß, dass „Sehen auch ein Handeln“ (23) und jeder Zuschauer zugleich Akteur seiner Geschichte ist. Die Logik der pädagogischen Beziehung ist in der Sicht Rancières herrschaftsanalog, weil sie die Positionen zwischen Wissenden und Unwissenden vorab festschreibt und in der Lehrpraxis reproduziert. In den folgenden Aufsätzen setzt sich Rancière mit der paradoxen Beziehung zwischen Kunst und Politik auseinander. Diese Beziehung ist problematisch geworden, weil – nach der postmodernen Debatte – an künstlerischen Aktivitäten vielfach eine Repolitisierung zu beobachten ist, die sich selbst für politisch hält, „weil sie die Stigmata der Herrschaft zeigt, [...] die herrschenden Ikonen lächerlich macht oder aber weil sie ihre angestammten Plätze verlässt, um Sozialpraxis zu werden“ (64). Diesen Vorstellungen liegt ein falsches Modell ästhetischer Wirksamkeit zugrunde, das auf die Übermittlung von Botschaften oder die Demonstration von Gegenmodellen des Verhaltens setzt. Ganz im Gegenteil müsse die ästhetische Wirksamkeit als die eines Abstandes, einer Entkoppelung von künstlerischen Hervorbringungen und gesellschaftlichen Zwecken verstanden werden. Davon ausgehend formuliert Rancière die starke These, Kunst und Politik hätten beide mit der Ermöglichung von Dissens zu tun. Politik vollzieht dies nicht als Ausübung von Macht – für diese Funktion verwendet er den Begriff der Polizei –, sondern als Praxis, in der sich die Subjekte als Teilhaber an einer gemeinsamen Welt behaupten können. Und Kunst ermöglicht Dissens, weil sie jenseits aller Funktionalität „Risse im Gewebe der Wahrnehmungen und in der Dynamik der Affekte“ (77 ff.) erzeugt. In diesem Kontext grenzt sich Rancière strikt von Deutungen eines neuen, flexiblen Kapitalismus ab, der – wie Boltanski/Chiapello behaupten – die kreativen Impulse der 68er‑Bewegung integriert habe. Insofern beide Modi des Dissenses neue Topografien des Möglichen zeichnen, können sie das kritische Denken wieder mit einer Emanzipationsperspektive verbinden.
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Rubrizierung: 5.42 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Wien: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39769-der-emanzipierte-zuschauer_47255, veröffentlicht am 23.06.2016. Buch-Nr.: 47255 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken