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Tomáš Sedláček / Oliver Tanzer

Lilith und die Dämonen des Kapitals. Die Ökonomie auf Freuds Couch

München: Carl Hanser Verlag 2015; 350 S.; geb., 26,- €; ISBN 978-3-446-44457-7
„Die ökonomische Weltsicht wird ein immer wichtigerer Teil unseres Denkens.“ (11) Und obschon sie sich ebenso erwachsen wie rational wähnt, sind die „psychopathologischen Erscheinungen der Ökonomie“ (7) in Form des zeitgenössischen, neoliberal durchdrungenen Kapitalismus schon lange nicht mehr mit reiner Wirtschaftstheorie zu erklären. Die Ursachen ihrer Verwerfungen liegen tiefer und so lebt das Buch davon, „unser System gleichzeitig mit ökonomischer wie psychologischer Logik erfassen zu wollen“ (8). So fördern Tomáš Sedláček und Oliver Tanzer im Rahmen ihrer Psychoanalyse des Fetischs des Ökonomischen etwa den Befund zutage, dass sich antike Mythen und moderne Ökonomie – außer hinsichtlich der intensiven Verwendung mathematischer Modelle bei Letzterer – kaum voneinander unterscheiden. Es gehe beiden um Welterklärung und in dieser Hinsicht habe sich die Ökonomie gerade in jüngerer Vergangenheit als zunehmend „zerstörerisch“, als „in einem perversen Kreislauf von Konsum und Wachstum“ (25) gefangen, erwiesen. Damit nicht genug: Der Gegenwartskapitalismus, obschon er sich in seinem Wirken als Naturgesetz darzustellen vermocht habe, sei letztlich eine kontingente Erscheinung – nach Aristoteles sei er damit möglich, aber nicht notwendig. Wie wenig notwendig, geschweige denn wünschenswert er ist, wird deutlich, wenn Sedláček und Tanzer auf seine Axiomatik verweisen, beginnend bei der ihm eingeschriebenen, nachgerade sadistischen Aggressivität bis hin zur vermeintlichen Klarheit einer immer möglichen Entweder‑Oder‑Entscheidung. Und wie steht es um die Möglichkeit einer Therapie? Die Fortsetzung der bereits existierenden Destruktivität, das ist die gute Nachricht, ist in der Tat nur eine Option – sie ist möglich, aber nicht notwendig. Die Alternative besteht in der Wiederentdeckung von Verhaltensweisen und Werten, die ein ebenso maßloser wie egoistischer Kapitalismus aus unserem alltäglichen Verhaltensrepertoire so gut wie getilgt hat: „Es geht dabei um Empathie und Kreativität, um Ausdauer und die Fähigkeit, sich selbst zu vertrauen und der eigenen Intuition. Und das alles verlangt die Überwindung von Scham und Angst.“ (26) So einfach kann gelingendes Leben sein – und doch so weit entfernt. Der von Sedláček und Tanzer unternommene Versuch jedenfalls, die Ökonomie psychoanalytisch zu betrachten – was im Übrigen schon Schumpeter, Keynes, Marshall gefordert hatten, weil sie um die Verbundenheit, um die wechselseitige Abhängigkeit von Markt und Mensch wussten –, ist unglaublich inspirierend. Vielleicht ist es das erste ökonomische Buch neuen Stils – und das wichtigste, aussagekräftigste seit Jahren ohnehin.
{LEM}
Rubrizierung: 2.22.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Tomáš Sedláček / Oliver Tanzer: Lilith und die Dämonen des Kapitals. München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39313-lilith-und-die-daemonen-des-kapitals_47712, veröffentlicht am 28.01.2016. Buch-Nr.: 47712 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken