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Evgeny Morozov

Eine humane Gesellschaft durch digitale Technologien? Hrsg. von Wolfgang Thierse, Thorsten Schäfer-Gümbel, Volker Gerhardt, Gesche Joost und Thymian Bussemer

Essen: Klartext 2015 (Kultur in der Diskussion 19; Philosophie und Politik XIV); 91 S.; 9,95 €; ISBN 978-3-8375-1442-1
Welches Gesellschaftsmodell genügt den Herausforderungen der Digitalisierung? Wie lassen sich die Interessen von Bürger_innen und Wirtschaft ausbalancieren? Die 14. Runde der SPD‑Veranstaltungsreihe „Philosophie trifft Politik“ im Rahmen der Kampagne „DigitalLeben“ versuchte im Winter 2014, darauf Antworten zu finden. Die Vorträge, allen voran des Internet‑Theoretikers Evgeny Morozov (Harvard University), und die anschließenden Podiumsdiskussionen sind in diesem Band dokumentiert. Morozov umreißt gewohnt pointiert die Auswirkungen digitaler Technologien auf den Alltag ihrer Nutzer_innen sowie auf das Gesellschafts‑ und Wirtschaftssystem. Er identifiziert ein drei‑Schichten‑System der digitalen Wirtschaft, bestehend aus Sensoren, Filtern und Profilen. Es führe in letzter Konsequenz dazu, dass Konzerne jede Äußerung eines Individuums erfassen und in eine marktförmige Interaktion überführen können. Damit entstehe ein „neoliberalism on steroids“ (16): „it creates markets everywhere while also producing an entirely new subjectivity for its participants“ (16). Diese Extremform des Neoliberalismus brauche eine neue Form der Regulierung – nicht die von europäischen Akteuren häufig propagierte Zerschlagung von Großkonzernen wie Google oder Facebook, sondern einen radikaleren Ansatz: die Überführung der Hoheit über die Daten in die öffentliche Hand. Damit würde sowohl den Interessen der Unternehmen als auch der Bürger_innen und Staaten gedient. Morozov regt an, Basisfunktionen des Internets wie E‑Mail und einfache Suchfunktionen als öffentliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und im Gegenzug anfallende Nutzungsdaten zur Verbesserung kommunaler Angebote zu verwenden. Thorsten Schäfer‑Gümbel bezieht sich in seinem Beitrag auf Grundwerte der Sozialdemokratie wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – und zeigt sich skeptisch gegenüber der Vision von Morozov, den Staat als Online‑Dienstleister und Datensammler zu etablieren. In der anschließenden Diskussion äußern der Philosoph Volker Gerhardt, Thymian Bussemer (SPD‑Grundwertekommission) und Gesche Joost (Internetbotschafterin der Bundesregierung) ihre Bedenken gegenüber den Gefahren der digitalen Medien (exzessive Nutzung, Datenschutz und ‑sicherheit). Sie werden von Morozov aber vehement darauf hingewiesen, dass die Problematik weniger auf der Ebene des individuellen Nutzerverhaltens liege, sondern eine Frage der Gestaltung des neoliberalen Wirtschaftssystems sei. Hier zeigt sich eine neue Facette im mittlerweile häufig recht gleichförmigen Diskurs über die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung, die dieses Buch durchaus lesenswert macht.
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Rubrizierung: 2.22.222.3335.42 Empfohlene Zitierweise: Sonja Borski, Rezension zu: Evgeny Morozov: Eine humane Gesellschaft durch digitale Technologien? Essen: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39108-eine-humane-gesellschaft-durch-digitale-technologien_47605, veröffentlicht am 19.11.2015. Buch-Nr.: 47605 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken