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Sebastian Voigt

Der jüdische Mai '68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 22); 383 S.; 69,99 €; ISBN 978-3-525-37036-0
Geschichtswiss. Diss. Leipzig; Begutachtung: D. Diner, S. Zepp. – Sebastian Voigt löst Elemente voneinander, die in der „Hochzeit der Neuen Linken Frankreichs“ (13) miteinander verschmolzen waren und so der Entwicklung der französischen Nachkriegsgesellschaft eine ganz eigene Prägung gaben. Als Ausgangs‑ und zugleich Kulminationspunkt macht Voigt die Parole „Nous sommes tous des juifs allemands“ (Wir sind alle deutsche Juden) aus, mit der tausende Demonstrant_innen im Mai 1968 dagegen protestierten, dass Daniel Cohn‑Bendit die Wiedereinreise in sein Geburtsland Frankreich verweigert wurde. Als Schlusspunkt setzt er die Ermordung des jüdischen Linksradikalen Pierre Goldmann im Jahre 1979 und seine Beerdigung, an der beinahe die gesamte Linke des Landes teilnahm. Dem Politiker Cohn‑Bendit, dem Aktivisten und Schriftsteller Goldmann sowie dem Philosophen André Glucksmann ist in dieser Dissertation jeweils eine an der Biografieforschung orientierte Fallstudie gewidmet. Sie waren nicht nur wichtige Protagonisten der Neuen Linken, so die Erläuterung Voigts, sondern ihre Lebensläufe als Kinder jüdischer, sozialistisch oder kommunistisch gesinnter und nach Frankreich immigrierter Eltern dienen auch „als gedächtnispolitische Folie zur Veranschaulichung kollektiver Aspekte der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert“ (13). Ein Beispiel hierfür zeigt sich etwa in der Beziehung Cohn‑Bendits zu Hannah Arendt, einer Bekannten seiner Eltern. Gerade die „biografischen Verschränkungen“ (136) durch die Flucht aus NS‑Deutschland erzeugten einen Kontext, der die „jüdische Dimension“ zu einem Teil auch von Cohn‑Bendits Lebensgeschichte macht, argumentiert Voigt. „Arendts Schriften stellten für Daniel Cohn‑Bendit eine Handreichung zum Verständnis seiner Familiengeschichte dar. […] Darüber hinaus war sie es, die ihm die Begründung für einen antitotalitären Antikommunismus lieferte.“ (215) Auch bei Glucksmann und Goldmann erkennt der Autor eine auf die Beschäftigung mit Herkunft und Zugehörigkeit folgende „Aneignung der Tradition kommunistischer Dissidenz“ (327). Diese Entwicklung wird durch die ausführliche Einbeziehung der Lebensläufe der Eltern plausibel, wobei sich damit auch „unterschiedliche Gedächtnisräume jenseits von Frankreich“ (330) erschließen. Und so spiegeln sich in den hier in ihren Tiefen ausgeloteten Biografien von Goldmann, Cohn‑Bendit und Glucksmann, in denen sich das Jüdisch‑ und das Linkssein überlagern, auch Strömungen in der europäischen Geschichte.
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Rubrizierung: 2.12.222.232.612.312.3 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68. Göttingen u. a.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38928-der-juedische-mai-68_47172, veröffentlicht am 01.10.2015. Buch-Nr.: 47172 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken