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Hans Joas

Sind die Menschenrechte westlich?

München: Kösel Verlag 2015; 91 S.; geb., 10,- €; ISBN 978-3-466-37126-6
Die zunehmende Ausweitung der Rechtsgeschichte(n) durch globale Perspektiven wirft erneut die Frage nach der Herkunft der Menschenrechte auf. Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas begreift unter der Menschenrechtsgeschichte nicht allein eine Veränderung der Gesetzeslage im Sinne eines „aufs Rechtliche begrenzte[n] Zugriff[s]“. Er spricht von grundlegenden kulturellen Transformationen, die er im Begriff der „Sakralisierung der Person“ (12, siehe auch Buch‑Nr. 41427) zusammenfasst; gemeint ist die zunehmende Wertbindung des Menschen als heiliges Wesen sowie die Verrechtlichung dieses Verständnisses. Seine „affirmative Genealogie“ der Menschenrechte ergänzt Joas hier überzeugend, indem er kritisch auf ihre Schattenseiten verweist. Denn die Errungenschaften der Menschenrechtsgeschichte könnten, so Joas, auch für kulturelle Überlegenheitsansprüche genutzt werden. Er spricht vom „teleologischen Fehlschluss“ (78), nach dem es in der Geschichte der Menschenrechte bloß um eine Institutionalisierung schon existierender kultureller und religiöser Werte, im Sinne eines „genetische[n] Programm[s]“ (77), geht. Seine Argumentation entwickelt Joas anhand der Rechtfertigung von Sklaverei und Folter: Die modernen Ideen über Freiheit in Europa hätten zwar die Europäer vor Sklaverei bewahrt. Paradoxerweise habe aber die Konzeption uneingeschränkter Eigentumsrechte zu einer Ausdehnung der Sklaverei in der Peripherie der europäischen Kolonialreiche, etwa im System der Plantagensklaverei, beigetragen. Sogar die moderne „liberale“ politische Theorie habe zahlreiche Rechtfertigungen für die Sklaverei produziert. Die Sakralisierung der Person ist also ein fragiler Prozess, wie Joas anhand der erneuten Bestätigung der 1794 in den französischen Kolonien abgeschafften Sklaverei durch Napoleon 1802 sowie anhand der Rückkehr der Folter im Algerienkrieg und jüngst in Guantanamo und Abu Ghraib zeigt. Menschenrechte seien nicht allein ein „Verdienst des Westens“ (77), die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 kein „westliches Oktroi“ (67), sondern unter maßgeblicher Mitwirkung nicht‑westlicher Akteure entstanden. So sei „in den Ethiken aller religiösen und philosophischen Traditionen, die an den achsenzeitlichen Durchbruch zum moralischen Universalismus anknüpften“ (54), ein Potenzial für die Sakralisierung der Person gegeben. Zu fragen sei, welche Verschiebungen von Interessenlagen und welche Veränderungen die Mobilisierung dieser Potenziale und den Erfolg moralischer Bewegungen begünstigten – oder aber behinderten.
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Rubrizierung: 4.42 | 5.42 | 5.44 Empfohlene Zitierweise: Hendrik Simon, Rezension zu: Hans Joas: Sind die Menschenrechte westlich? München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38675-sind-die-menschenrechte-westlich_47193, veröffentlicht am 23.07.2015. Buch-Nr.: 47193 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken