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Rahel Jaeggi

Kritik von Lebensformen

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1987); 451 S.; 2. Aufl.; 20,- €; ISBN 978-3-518-29587-8
Moderne Gesellschaften sind strukturell durch Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichnet und für ihr normatives Selbstverständnis haben Prinzipien der Autonomie und Selbstverwirklichung maßgebliche Bedeutung. Angesichts dieser Konstellation postuliert politische Philosophie – prominent vertreten von Rawls und Habermas – eine kategoriale Differenz zwischen Moral und Ethik und verlangt von der politischen Ordnung des liberalen Rechtsstaats ethische Neutralität gegenüber der faktischen Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen. Rahel Jaeggi wendet sich in ihrer Arbeit – einer stark überarbeiteten Fassung ihrer Habilitationsschrift von 2009, deren erste Auflage 2014 erschien – entschieden und argumentativ beeindruckend gegen derartige Positionen „ethischer Enthaltsamkeit“. Denn werden „Fragen nach der Art und Weise, in der wir unser Leben führen, in den Bereich privater Präferenzen verschoben“ (10), dann verschleiert diese liberale Neutralitätsthese, dass in kapitalistisch verfassten Gesellschaften mit Basisinstitutionen wie dem Markt eigentlich immer schon über das Spektrum sozial akzeptabler Lebensformen vorentschieden ist. Jaeggi hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, eine „kritische Theorie der Kritik von Lebensformen“ (12) zu entwickeln und zu begründen, die – in der Traditionslinie der Kritischen Theorie stehend – geeignet wäre, individuelle und kollektive Emanzipationsprozesse zu unterstützen. Diese Absicht führt sie in vier aufeinander aufbauenden Schritten durch. Zunächst werden Lebensformen als eingelebte, aber nicht institutionell verbindliche Praktiken vorgestellt, die die kollektive Lebensführung betreffen. Weil Lebensformen stets Antworten auf historisch spezifische Probleme sozialer Ordnung darstellen – so der zweite Schritt –, sind in ihnen funktionale und ethische Normen verschränkt. Wenn Lebensformen gelingen oder scheitern können, dann verweist das auf begriffliche Probleme, die sich – das behandelt der dritte Teil – angemessen nur in Form immanenter Kritik aufklären lassen. Im abschließenden vierten Teil entwirft Jaeggi – in Auseinandersetzung mit Dewey, MacIntyre und Hegel – ein Modell sozialer Lernprozesse als Bezugsrahmen zur Interpretation gelingender oder misslingender Dynamiken gesellschaftlichen Wandels. Insgesamt bietet sie ein überzeugendes Plädoyer für eine rationale, nicht‑paternalistische Bewertung von Lebensformen, die deren experimentelle Pluralität voraussetzt.
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Rubrizierung: 5.42 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen Frankfurt a. M.: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38432-kritik-von-lebensformen_45654, veröffentlicht am 21.05.2015. Buch-Nr.: 45654 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken