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Eike Sanders / Ulli Jentsch / Felix Hansen

"Deutschland treibt sich ab". Organisierter "Lebensschutz", christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus

Hamburg/Münster: Unrast 2014 (unrast transparent: rechter rand); 98 S.; 7,80 €; ISBN 978-3-89771-121-1
Der an Thilo Sarrazins Un‑Buch erinnernde Titel dieser Einführung ist überaus gut gewählt. Denn mit Blick auf den zwischen christlichem Fundamentalismus und Rechtskonservatismus angesiedelten organisierten „Lebensschutz“ in Deutschland verdeutlicht er zweierlei: wie sehr die ihn propagierenden Akteure und Organisationen einen kaum erträglichen und mitunter gar selbstwidersprüchlichen Populismus betreiben und wie wenig dieser vermeintliche Kampf zum Schutz des ungeborenen Lebens überhaupt noch an das, was sich intersubjektiv anerkennbare Realität nennen ließe, anschlussfähig ist. Die detaillierte Analyse inhaltlicher Positionen und Argumente, wie sie von den Anti‑Abtreibungsorganisationen verwendet werden, verleiht dem Band nicht nur einen überaus guten Einführungscharakter, sondern macht ihn gar zu einem Lehrstück politischer Aufklärung. Das ist bei wissenschaftlichen Büchern äußerst selten, doch hier gelingt es. Hierzu ein Beispiel, mit Blick auf den bereits angesprochenen selbstwidersprüchlichen Populismus: Die selbsternannten Lebensschützer entwerfen für die deutsche Gegenwartsgesellschaft verschiedentliche Szenarien, die deren Untergang nachgerade notwendig einläuten – die allgemeine moralische Verwirrung infolge der 68er‑Bewegung etwa, die unter anderem zu solch merkwürdigen Einsichten beigetragen habe, es könnte jenseits der Mann‑Frau‑Dualität noch andere Geschlechterrollen geben. Ähnlich schlimm erscheint die Tatsache, dass Frauen verstärkt ins Berufsleben eingebunden, Schwangerschaftsabbrüche straffrei sind und Männer ihre angeblich biologisch‑genetisch veranlagte Beschützerrolle immer weniger wahrnehmen würden. Derlei, sowohl im katholischen als auch im protestantischen Fundamentalismus angelegte Sichtweisen – von den Kreationisten ganz zu schweigen – münden dann sehr schnell in ein demografisches Szenario des unvermeidlichen Aussterbens der deutschen Gesellschaft, weil diese immer weniger Kinder bekomme. Mehr Kinder, so die Argumentation der sogenannten Lebensschützer, müssen her, und die klassische, gemischtgeschlechtliche Ehegemeinschaft sei die Institution, die diese Kinder hervorbringen solle. Hier trifft sich eine populistische Bewegung mit einer anderen – Lebensschützer und die politische Rechte sind sich hinsichtlich eines bestimmten Familienmodells und seiner Funktion des Kinderzeugens sehr einig. Dabei stört kaum, dass die Rechten dann doch lieber deutsche Kinder wollen, die Lebensschützer eher alle – ungeachtet der Wünsche, Bedürfnisse und des Lebensentwurfes der betroffenen Frauen. Extreme Auseinandersetzungen machen offenbar bei der Wahl der Bündnispartner nicht wählerisch.
{LEM}
Rubrizierung: 2.3312.372.343 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Eike Sanders / Ulli Jentsch / Felix Hansen: "Deutschland treibt sich ab". Hamburg/Münster: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38404-deutschland-treibt-sich-ab_45945, veröffentlicht am 13.05.2015. Buch-Nr.: 45945 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken