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Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler (Hrsg.)

Redefreiheit. Öffentliche Debatten der Bevölkerung im Oktober und November 1989 – Problemwahrnehmungen und Lösungsvorstellungen aus der Mitte der Gesellschaft

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014; 751 S.; hardc., 39,90 €; ISBN 978-3-86583-888-9
„Es nützt nichts, wenn Sie den Hosenknopf aufmachen, sondern die Hose muss runter!“ (192) Diese metaphorische Aufforderung eines Bürgers erging an Hartmut Reitmann, damals Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirks für Inneres, wie seine Position im besten Beamtendeutsch hieß. Wie sehr das Regime an diesem 28. Oktober 1989 schon entblößt – entlegitimiert – war, schienen aber Reitmann und die anderen Vertreter des Systems, die sich im academixer‑Keller in Leipzig der Diskussion stellten, noch nicht realisiert zu haben. Dabei war seit der großen Demonstration am 9. Oktober, der das SED‑Regime nichts mehr entgegensetzen wollte und konnte, alles anders. Das bewies allein schon die Tatsache, dass diese Diskussion „Rechtsstaat – Staatsrecht“ überhaupt stattfand. Die Veranstaltung gehörte zu einer Reihe von freien Aussprachen, bei denen in den Wochen nach dem 9. Oktober im genannten Keller, im Gewandhaus und in der Moritzbastei endlich ohne Angst vor Repressionen Meinungen ausgetauscht werden konnten. Die Herausgeber charakterisieren diese Diskussionen als „Akuttherapie in der Stunde der Not“, als eine „schnellst möglich einsetzbare Volksversammlung“ (605), mit der auch das Risiko einer blutigen Auseinandersetzung minimiert worden sei. In über fünfjähriger Arbeit haben Thomas Ahbe, Michael Hofmann und Volker Stiehler die Tonaufnahmen dieser Veranstaltungen zusammengesucht und verschriftlich, ergänzt um Aufnahmen von Debatten auf der Straße. Damit wollen sie das Geschehen sowohl für interessierte Laien aufbereiten als auch als eine „Quelle für die wissenschaftliche Forschung bereitstellen“ (9). Dieses Vorhaben und seine Umsetzung sind gar nicht hoch genug zu loben, denn zu beobachten ist quasi eine Operation am offenen Herzen: Während die Protagonisten des SED‑Regimes sich noch immer von ihrer Gestaltungsmacht überzeugt zeigten und nur die Notwendigkeit von Reformen erkennen wollten, waren viele Bürgerinnen und Bürger aus praktisch allen Berufsgruppen sowie Vertreter der Kirche und des Neuen Forums schon viel weiter, kritisierten die Gängelung von Wirtschaft und Staat durch die Partei, forderten Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, Meinungs‑ und Pressefreiheit. Es war ein erstes Abtasten dessen, was nach dem Gewaltverzicht des Regimes denkbar wurde. Dabei ging es bemerkenswert geordnet zu, der Kabarettist Gunter Böhnke schloss die Debatte an jenem 28. Oktober entsprechend ebenso ernst wie klarsichtig: „Ich glaube, wir müssten dann doch zum Schluss kommen. Es ist schon Viertel nach Eins. Bitte.“ (213)
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Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler (Hrsg.): Redefreiheit. Leipzig: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38214-redefreiheit_46441, veröffentlicht am 26.03.2015. Buch-Nr.: 46441 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken