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Ágnes Heller

Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches. Hrsg. vom Sir Peter Ustinov Institut zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen

Wien/Hamburg: Edition Konturen 2014; 161 S.; 24,- €; ISBN 978-3-902968-03-6
Die schriftliche Ausführung von Ágnes Hellers Gastvorlesung an der Universität Wien bietet einige unzusammenhängende Versuche über die Elemente einer allgemeinen Theorie der Vorurteile. Entsprechend der wesentlichen Einflüsse Hellers aus der Existentialphilosophie, der Phänomenologie und der Systemtheorie werden Vorurteile vor der Kategorie der gesellschaftlichen Zeit interpretiert: Vorurteile im allgemeinen Sinn seien einerseits nur mit einer spezifisch modernen, auf die Zukunft gerichteten Steuerungserwartung der Gesellschaft denkbar. Andererseits sind sie aufgrund ihrer unmittelbaren Gestalt auf eine bestimmte Entfremdung des Menschen vom Affekt angewiesen: Affekte verlieren Heller zufolge in der Moderne ihre ursprüngliche kommunikative Rolle und werden zum „Rohmaterial“ (23) im Dienst der Selbsterhaltung. Heller dekliniert die Forschungshypothese über die Veränderungen der temporalen Struktur der Gesellschaft in verschiedenen Versionen durch, unter anderem am Beispiel psychologischer Projektion oder am Fortschrittsglauben. Trotz vieler Wendungen zeichnet sich aber an keiner Stelle eine kohärente Theorie der allgemeinen sozialen Funktion und semantischen Struktur von Vorurteilen ab. Ganz im Gegenteil weisen alle einzelnen Elemente immer wieder auf ungelöste Fragen der gesellschaftlichen Totalität zurück, die Heller aber aufgrund des von ihr vorausgesetzten methodologischen Kurzschlusses – Temporalität gleich Moderne gleich Markt, Wissenschaft und Demokratie – nicht in den Blick bekommt. Dementsprechend ersetzt im zweiten Teil des Bandes eine Totalitarismustheorie alle weiteren Überlegungen zu den Vorurteilen. Im Zuge der These, dass Klassen‑ und Rassendiskriminierung als Vorurteile im Wesentlichen strukturgleich seien, nämlich Äußerung eines totalitären Staates, lässt sich Heller noch dazu hinreißen, ausgerechnet Lenins Idee der politischen Partei zum „Grundstein aller bösen Taten im 20. Jahrhundert“ (111) zu machen. Eine Erklärung, auf welchen Wegen zum Beispiel geschlechterbasierte Vorurteile aus dem totalitären Staatsterror entspringen sollen, wo sie sich doch ganz offenbar auch in feudale und liberaldemokratische Welten nahtlos einfügen, bleibt oberflächlich und in essenzialisierenden Zuschreibungen verhaftet.
Florian Geisler (FG)
B. A., Politikwissenschaftler, Student, Goethe Universität Frankfurt am Main.
Rubrizierung: 5.422.232.252.27 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Ágnes Heller: Die Welt der Vorurteile. Wien/Hamburg: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37758-die-welt-der-vorurteile_46135, veröffentlicht am 06.11.2014. Buch-Nr.: 46135 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken