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Tayfun Guttstadt

Çapulcu. Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei

Münster: Unrast 2014; 325 S.; 18,- €; ISBN 978-3-89771-053-5
„Capulcu“ – das heißt auf Türkisch ‚Plünderer’ und war die Bezeichnung, die sich die offizielle Türkei für jene Menschen zu eigen gemacht hat, deren Protest von einer kleinen Mahnwache gegen das Fällen der Bäume im Gezi‑Park in Istanbul innerhalb kürzester Zeit zu einer weltweit beachteten demokratischen Protestbewegung anwuchs. Tayfun Guttstadt ermöglicht mit seinem Buch einen Einblick in die Abläufe, die er durch eigene Besuche am Taksim‑Platz und im Gezi‑Park im Juni 2013 sehr nah und eindringlich zu beschreiben vermag. „Gezi hat uns alle fasziniert. Auch wenn ich meine Probleme damit habe, vom ‚Volk’ zu reden, hier trifft es zu: Das Volk hat den Taksim erobert und den Staat in seine Schranken verwiesen.“ (7) Soweit ist es ein gängiges Narrativ, das sich in vielen der gerade zum Thema erscheinenden Publikationen wiederfinden lässt: wir hier unten gegen die da oben. Bei Guttstadt kommt indes ein weiterer Aspekt dazu, der auf das Empfinden vieler Beteiligter abstellt, wonach es gerade zu jenem Zeitpunkt zu Protesten habe kommen müssen. Dieses ‚gerade jetzt’ mündet dann – was den ersten, darstellenden Teil des Bandes anbelangt – recht schnell in ein ‚Es wird weitergehen’, ohne dass das Spezifikum des Protests bereits hinreichend deutlich identifiziert worden wäre. Die Stärken des Bandes liegen im zweiten Teil, in dem Guttstadt Interviews mit den Capulcu präsentiert. Hier kommen linke Aktivist_innen ebenso zu Wort wie Maschinenbauingenieure, Vertreter aus dem religiösen Spektrum und ein reisender Anarchist. Dies ist spannend zu lesen, weil so ungefiltert wie eben möglich die politischen Wünsche, Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen, die sich ihrer demokratischen Macht im politischen System der Türkei bewusst wird. Vielleicht ist damit das Besondere identifiziert – der Moment des Bewusst‑Werdens, oder, wie Fatma Kurcan Dogan es beschreibt: „Also zumindest ist ein neues Bewusstsein entstanden. Die Leute sprechen ihre Sorgen und Forderungen eher aus. Sie haben keine Angst mehr. [...] Das ist etwas sehr Gutes.“ (214 f.) – Neben den beiden großen Teilen – der Darstellung und den Interviews – enthält der Band noch weitere Bilder, historische Hintergrundinformationen und andere Materialien, die ihn zu einem der komplettesten Bände zum Thema machen, die derzeit verfügbar sind.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.632.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Tayfun Guttstadt: Çapulcu. Münster: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37305-apulcu_45611, veröffentlicht am 17.07.2014. Buch-Nr.: 45611 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken