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Handan Aksünger

Jenseits des Schweigegebots. Alevitische Migrantenselbstorganisationen und zivilgesellschaftliche Integration in Deutschland und den Niederlanden

Münster u. a.: Waxmann Verlag 2013 (Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Deutschland und die Niederlande im Vergleich 11); 258 S.; brosch., 34,90 €; ISBN 978-3-8309-2883-6
Diss. Münster; Begutachtung: J. Platenkamp, D. Thränhardt. – Ein Drittel der türkischstämmigen Migranten, die in Deutschland und den Niederlanden leben, sind Aleviten. Lange Zeit wurden sie als ethnisch‑religiöse Gruppe von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft nicht wahrgenommen. Zum einen wurden türkische Migranten in den Aufnahmeländern als homogene Gruppe betrachtet, zum anderen unterlagen die Aleviten einem aufgrund ihrer jahrhundertelangen Verfolgung sich selbst auferlegten Schweigegebot gegenüber Außenstehenden hinsichtlich ihrer Glaubensvorstellungen. Erst im Zuge einer wachsenden Selbstorganisation in der Migration, die in den 1980er‑Jahren einsetzte, entwickelten sich die Aleviten von einer geschlossenen zu einer offenen Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund dieses Wandels vom „Schweigegebot zum politischen Identitätsbekenntnis“ (30) fragt die Autorin nach der Bedeutung der Migrantenselbstorganisationen (MSO) für den Integrationsprozess. Im Mittelpunkt dieser ethnologischen Studie stehen somit die kulturellen Veränderungen im Verlauf der Migration. Hierfür stellt Handan Aksünger zunächst die soziale Ordnung, die Glaubensvorstellungen, ethischen Prinzipien und religiösen Rituale der Aleviten in ihrer Herkunftsregion (Erzincan in Ostanatolien) dar und vergleicht diese dann mit zwei Fallbeispielen aus den Niederlanden (Rotterdam) und Deutschland (Duisburg). Die Autorin kann aufzeigen, dass Verwandtschaftsbeziehungen, Glaubensfragen und rituelle Praxen in beiden Ländern deutliche Modifikationen erfahren haben und die alevitischen MSO die Rolle von zivilgesellschaftlichen Akteuren einnehmen. Dies drückt sich u. a. in einer vielfältigen, auch nach außen gerichteten Vereinsarbeit sowie in der Einbeziehung von Nicht‑Aleviten in jahreszyklische Andachten und Feste aus. Religion fungiere so als „Scharnier, um die Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft zu gestalten“ (228). Aksünger ordnet ihre Befunde in den Kontext der wissenschaftlichen Debatte über die Rolle von MSO ein, die in Deutschland und auch neuerdings in den Niederlanden vornehmlich dichotom zwischen integrationshemmend und ‑fördernd geführt wird. Am Beispiel der Aleviten wird deutlich, so Aksünger, „dass die ‚Renaissance der Religion’ in postsäkularen modernen Gesellschaften wie in Deutschland und den Niederlanden nicht notwendigerweise als Hemmnis, sondern als Ressource für den Integrationsprozess gesehen werden kann“ (228). Interessant ist zudem der Befund, dass die im Integrationsprozess vollzogenen Veränderungen auf die Identität der Aleviten in der Türkei zurückwirken und somit transnationale Dynamiken entfalten.
Anke Rösener (AR)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.222.612.3312.354.42 Empfohlene Zitierweise: Anke Rösener, Rezension zu: Handan Aksünger: Jenseits des Schweigegebots. Münster u. a.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36584-jenseits-des-schweigegebots_44688, veröffentlicht am 09.01.2014. Buch-Nr.: 44688 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken