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Jörg Becker

Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013; 369 S.; brosch., 38,90 €; ISBN 978-3-506-77614-3
Neue Umfragemethoden von George Gallup faszinierten Elisabeth Noelle während ihres Studienaufenthaltes in den USA, die sie – mit unabhängigem Verstand – in der 1940 verteidigten Promotion vorstellte. Der emeritierte Politologe Becker sieht diese Initialzündung der späteren Demoskopin als „wissenschaftsgeschichtlich innovativ“ (34) an, erkennt aber keinen Modernitätsanspruch der damals dem autoritären Führerstaat zugetanen Autorin: Was in Amerika zur Rückkopplung mit Zeitungslesern funktionierte, legte Noelle den Deutschen als Führungsinstrument nahe. Noelle, aus einer großbürgerlichen Berliner Familie, war ausweislich ihrer Erinnerungen bis dahin eher faul und an Spaß interessiert als an Ideologie, dabei stets selbstbewusst bis zur liebenswürdigsten Arroganz – wie die zweite Ehefrau Sebastian Haffners aus der gemeinsamen Redaktionszeit bei der Zeitung „Das Reich“ berichtete. Genaue Hörerzahlen etwa der Wunschkonzerte für die Wehrmacht beschäftigten die 1943 bis 1945 beim Verlag der Frankfurter Zeitung beschäftigte und in Bad Schandau (wohin Akten der NSDAP‑Auslandsorganisation ausgelagert waren) ansässige Journalistin, die Konflikte mit der Reichspressekammer wohl nach 1945 aufbauschte. Die Echtheit der auf den Seiten 159 und 160 abgebildeten Entnazifizierungsurkunden ist ebenso erwiesen wie kraftlos: Das Wort „unbelastet“ in der französischen bzw. „entlastet“ in der britischen Zone galt für „Mitläufer“ buntester Vergangenheiten. Wie das Umfrage‑Institut am Bodensee entstand, welchen Einfluss der Ehemann Erich Peter Neumann in Bonn spielte, gehört zum Gründungskanon der Bundesrepublik. Methodische Schwächen, ein latenter Antisemitismus, die Nähe zur „Neuen Rechten“ – Becker spart nicht mit Kritik, die eine Symbiose von Ludwig Erhards Markt‑ und Noelles Meinungsforschung als Büttel des kapitalistischen Aufbaus brandmarkt, oft aus Sicht besserwisserischer Frankfurter Sozialwissenschaftler. Mag Beckers Studie den „Mythos“ der durchsetzungsfähigen Frau entzaubern wollen – seine These, die „demokratiefeindlichen und herrschaftsstabilisierenden Methoden“ (204) gehörten zu einer Form des gärenden Faschismus, überzeugt nicht.
Sebastian Liebold (LIE)
Dr., Politologe und Zeithistoriker, wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.3 | 2.35 | 2.313 | 2.312 Empfohlene Zitierweise: Sebastian Liebold, Rezension zu: Jörg Becker: Elisabeth Noelle-Neumann. Paderborn u. a.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35999-elisabeth-noelle-neumann_43723, veröffentlicht am 25.07.2013. Buch-Nr.: 43723 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken