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Joachim von Arnim

Zeitnot. Moskau, Deutschland und der weltpolitische Umbruch

Bonn: Bouvier Verlag 2012; 560 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-416-03357-2
Die Gewichtung der Gründe für den Zerfall der Sowjetunion wird in der politikwissenschaftlichen und historischen Forschung nach wie vor stark diskutiert (vgl. zuletzt Buch‑Nr. 43283). Die vielfältige Memoirenliteratur gerade auch deutscher Diplomaten liefert hier zahlreiche Deutungsangebote (siehe etwa Buch‑Nr. 22951, 41133). In diese Reihe lassen sich die Ausführungen Joachim von Arnims einordnen. Zwischen 1982 und 1984 sowie 1989 und 1991 an der bundesdeutschen Botschaft in Moskau tätig, schildert er die Grundlagen deutscher Sowjetunionpolitik und die Abläufe des Wendeprozesses im Rahmen der Perestroika‑Politik Michail Gorbatschows. Überzeugend zeichnet der Autor die ambivalente Haltung vieler sowjetischer Politiker in Bezug auf die Deutschlandfrage nach. Grundlage dafür bilden amtliche Stellungnahmen und Publikationen, aber auch die Lageberichte der deutschen Botschaft, von denen zwei aus dem Jahr 1990 im Anhang abgedruckt sind. Als Anhänger der Neuen Ostpolitik Willy Brandts und als Vertreter der Westbindung der Bundesrepublik hatte sich von Arnim während seines zweiten Moskauaufenthalts unter Umgehung seines Dienstherrn Hans‑Dietrich Genscher direkt an Helmut Kohls Berater Horst Teltschik gewandt. Er sprach sich gegen die von Genscher ins Spiel gebrachte Neutralisierung Deutschlands im Falle der Wiedervereinigung aus. Eine Neutralität hätte die Integration Deutschlands in die Europäische Union verhindert und damit erneut eine gefährliche Mittellage hervorgerufen. Entsprechend spart der Autor nicht mit Lob für die Politik Kohls, aber auch George Bushs. Im Blick auf das postsowjetische Russland kann sich von Arnim von gewissen Überlegenheitsgefühlen nicht frei machen, wenn er „den Russen“ vorwirft, dass sie „die Politik Gorbatschows nicht verstanden [hätten]“ (510). Und die Äußerung, nur die Lektüre der „großen russischen Schriftsteller“ könne Einblicke in „ihre Denkweise und ihre Gefühle“ (14) geben, scheint geradezu der „deutschen Dostojewtschina“ (Gerd Koenen, siehe Buch‑Nr. 28490) der Zwischenkriegszeit entsprungen.
Martin Munke (MUN)
M. A., Europawissenschaftler (Historiker), wiss. Hilfskraft, Institut für Europäische Studien / Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.3 | 4.1 | 4.21 | 4.22 | 2.62 | 2.315 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Joachim von Arnim: Zeitnot. Bonn: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35961-zeitnot_43865, veröffentlicht am 17.07.2013. Buch-Nr.: 43865 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken