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Wolfgang Liedtke / Georg Materna / Jochen Schulz (Hrsg.)

Hunger. Ursachen, Folgen, Abhilfe. Eine interdisziplinäre Kontroverse

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012 (Arbeiten aus dem Institut für Ethnologie der Universität Leipzig 10); 525 S.; brosch., 32,- €; ISBN 978-3-86583-699-1
Es werde versucht, das globale Ernährungsproblem pluridisziplinär – also sozial‑ und naturwissenschaftlich sowie entwicklungspolitisch – anzugehen, dieser Sammelband sei daher ein „Experiment“ (5), wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen. Das Experiment kann – das gleich vorweg – als gelungen bezeichnet werden, denn die Beiträge ermöglichen einen umfassenden sowohl theoretischen (Ursachen und Historie) als auch praktischen (Wirtschaft, Politik, NGOs bis hin zur Agrarethnologie) Zugriff auf die Thematik. Und sie zeigen zudem die eigentümliche Spannung auf, die ihr innewohnt. Wolfgang Liedtke, der kurz vor Erscheinen des Bandes verstorben ist, und Andreas Exenberger thematisieren in ihren Beiträgen die historische Dimension von Hunger und Gesellschaft. Dabei kommen sie – mit Blick auf die Theorien von Thomas R. Malthus – unter anderem zu dem Schluss, dass Hunger, der lange Zeit als „quasi natürliches Korrektiv und als existenzielle Bedrohung für Menschen in jenen Gesellschaften [galt], die über ihre Möglichkeiten wuchsen“ (79), auch heute weit davon entfernt ist, kein Problem mehr zu sein: „Wie ist zu verhindern, dass die tatsächliche Garantie auf Nahrung dazu führt, dass die Leistungsanreize nicht mehr ausreichen, um die allgemeine Versorgungslage zu garantieren?“ (94). Aus agrarethnologischer Sicht hingegen ist die – vielleicht übermäßig plakativ formulierte – Frage weitaus eindeutiger: Wenn Bauern, egal auf welchem Flecken des Planeten, über ein hohes Maß an Kompetenzen im Umgang mit Kultur‑ und Nutzpflanzen verfügen, wie kann es dann sein, dass dennoch mitunter nicht genügend Lebensmittel zur Verfügung stehen? Josef Drexlers Antwort lautet: „Hunger ist zuvorderst ein politisches Problem!“ (432) Ob der Ruf nach mehr staatlicher Aufsicht in der Lebensmittelproduktion ein Allheilmittel ist, steht indes genauso in Frage wie die gegenwärtige Marktgläubigkeit, die Genpatente auf Saatgut ohne allzu große Bedenken börsennotierten Großkonzernen überlässt. Insofern ist Drexlers Ausruf nicht zuletzt auch eine Forderung nach mehr Debatte über den Umgang mit Hunger im – was das Ganze zumindest aus westlicher Perspektive noch beschämender macht – 21. Jahrhundert. Alle Beiträge des Bandes gehen zurück auf die Tagung „Hunger. Ursachen und Abhilfe. Eine interdisziplinäre Kontroverse“, die im November 2009 am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig stattgefunden hat.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 4.45 | 4.44 | 4.42 | 4.3 | 2.65 | 2.67 | 2.68 | 2.22 | 2.23 | 2.262 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Wolfgang Liedtke / Georg Materna / Jochen Schulz (Hrsg.): Hunger. Leipzig: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35649-hunger_43029, veröffentlicht am 13.06.2013. Buch-Nr.: 43029 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken