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Marco Seliger

Sterben für Kabul. Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg

Hamburg/Berlin/Bonn: Verlag E. S. Mittler & Sohn GmbH 2011 (Mittler Kontrovers); 221 S.; brosch., 19,95 €; ISBN 978-3-8132-0935-8
„Wenn schon Krieg, dann anständig und sauber. Das ist eine der vielen Wunschvorstellungen gewesen, mit denen die Politiker die Bundeswehr Ende 2001 nach Afghanistan verabschiedet haben.“ Ein anständiger, sauberer Krieg? Den gibt es auch im 21. Jahrhundert nicht, schon gar nicht am Hindukusch, wo angeblich die deutsche Freiheit verteidigt wird. Dieses Fazit jedenfalls ist aus dem engagiert geschriebenen Buch von Marco Seliger zu ziehen. Der Journalist stellt die Soldaten in den Mittelpunkt, beschreibt ihre Aufgabe, ihre Einsätze, ihre Verwundungen, ihren Tod und die Trauer ihrer Partner und Eltern, die nicht wissen, wofür ihre Männer und Kinder gestorben sind. Zwar sei es richtig gewesen, in Afghanistan zu intervenieren, um islamische Terroristen zu bekämpfen, meint Seliger. Der Einsatz habe sich aber so entwickelt, dass Deutschland dort eine Regierung unterstütze und finanziere, „die von der Gesellschaft weitgehend verachtet und abgelehnt wird, vielfach sogar aktiv bekämpft wird“ (211). Die Lage sei dermaßen instabil, dass nach dem Abzug der Truppen 2014 die Karten neu gemischt werden – die Frage, ob der Bundeswehreinsatz überhaupt irgendwelche spürbaren positiven Folgen haben wird, stellt Seliger nicht einmal mehr richtig. Er weist vielmehr darauf hin, dass die eigentliche islamistische Gefahr mittlerweile aus dem destabilisierten Pakistan droht. Diese prägnante kurze Analyse steht als Schlusspunkt einer ebenso akribischen wie eindringlichen Chronologie des Krieges vor allem aus Sicht der deutschen Soldaten, in der nicht nur die das Leben gefährdende, mangelhafte Ausstattung zur Sprache kommt. Ungeklärte Aspekte des Einsatzes veranschaulicht Seliger unter anderem am Beispiel des Soldaten, der im zeitlichen Kontext eines Anschlages in Notwehr Zivilisten erschoss und sich anschließend den Untersuchungen der deutschen Staatsanwaltschaft ausgesetzt sah – auf sich gestellt, ohne Rechtsbeistand durch die Bundeswehr. Dargestellt werden zudem das Leiden der afghanischen Zivilbevölkerung, die Tatsache, dass das Wort Taliban besser als Sammelbegriff verstanden werden sollte sowie die inkonsequente, nach kurzfristigen Bündnissen Ausschau haltende Strategie der US-Truppen. Die Debatten der deutschen Politiker, auf die Seliger sich bezieht, erscheinen angesichts der tatsächlichen Situation in dem Land als realitätsfern und die Definition des Einsatzes als zivil-militärisch trügerisch. Insgesamt erklärt Seliger an konkreten Beispielen eindringlich, warum der deutsche Einsatz in Afghanistan angesichts der Bedingungen im Land scheitern muss. Daran schließt sich die dringende Frage an, welche Schlüsse Politik und Gesellschaft in Deutschland daraus zu ziehen haben.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 4.41 | 2.68 | 4.21 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Marco Seliger: Sterben für Kabul. Hamburg/Berlin/Bonn: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34888-sterben-fuer-kabul_41940, veröffentlicht am 16.05.2012. Buch-Nr.: 41940 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken