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Cristina Léon

Zwischen Paris und Moskau. Kommunistische Vorstadtidentität und lokale Erinnerungskultur in Ivry-sur-Seine

München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012 (Pariser Historische Studien 99); 358 S.; 49,80 €; ISBN 978-3-486-70671-0
Diss. München; Begutachtung: H. G. Hockerts, T. Raithel. – Eine bemerkenswerte kleine Facette Gesamteuropas beschreibt Léon mit der Geschichte von Ivry-sur-Seine. Die Stadt gehört zur Pariser Banlieue und ist dennoch kein Anhängsel der Metropole, sondern politisch auf eigenwilligem Weg unterwegs. Ivry-sur-Seine erscheint sogar als so etwas wie ein kleines Scharnier zwischen dem West- und Osteuropa vor 1989, weil das Rathaus seit Jahrzehnten von einer stabilen kommunistischen Mehrheit dominiert wurde (und wird), die der Stadt und der Gesellschaft ihren Stempel aufdrückte. Unter kommunistischen Vorzeichen rückte die städtische Gesellschaft schon Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen, vor allem durch eine damals fortschrittliche Wohnungs- und Sozialpolitik. Wie unter dem Brennglas gehörten dann – immer vor dem Hintergrund des lokalen Kommunismus – auch die Bewunderung für die Sowjetunion, das Engagement einiger Bürger im Spanischen Bürgerkrieg, das Verbot der Kommunistischen Partei am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und die Verfolgung der Kommunisten durch die nationalsozialistischen Besatzer zur Stadtgeschichte. León arbeitet präzise heraus, wie sich diese historischen Erfahrungen nach der Rückeroberung des Rathauses zu einer spezifischen Legitimation der lokalen kommunistischen Herrschaft verdichteten. Sichtbar wurde dies daran, dass ein Viertel der Straßen die Namen lokaler oder nationaler kommunistischer Repressionsopfer erhielt. Die Autorin zeigt aber auch, wie diese kommunistisch geprägte Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart erstarrte. Nicht reflektiert wurde, dass die städtische Gesellschaft pluralistischer wurde. Und während sich das Andenken auf die eigenen Anhänger konzentrierte, wurden die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Besatzung erst langsam und sehr spät wahrgenommen. Besonders frappierend ist die enge Städtepartnerschaft zwischen Ivry-sur-Seine und der Stadt Brandenburg in der damaligen DDR, die Lokalpolitiker setzten damit einen deutlichen Akzent gegen die französisch-(west)deutsche Aussöhnung, die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Bundesrepublik wurde ignoriert. Diese Ivry-sur-Seine eigene Erzählung der Vergangenheit verstellte den kommunistischen Lokalpolitikern den Blick, so Léons Fazit, sie nahmen den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht wahr. Selbst nach dem Mauerfall 1989 „fand in Ivry keinerlei offizielle Debatte über die Folgen des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems in Europa und die möglichen Konsequenzen für das lokale Gemeinwesen statt“ (323).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.61 | 2.23 | 2.21 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Cristina Léon: Zwischen Paris und Moskau. München: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34775-zwischen-paris-und-moskau_41802, veröffentlicht am 26.07.2012. Buch-Nr.: 41802 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken