Mit der Anfang der 90er‑Jahre von Wolfgang Wessels aufgestellten Fusionsthese wurde versucht, den dynamischen Charakter des europäischen Integrationsprozesses zu erfassen: Aufgrund wachsender Nachfrage sowohl vonseiten der Bürger nach Wohlfahrt, Gütern und Dienstleistungen als auch vonseiten anderer politischer Akteure und Ebenen nach Inklusion im Entscheidungsprozess verschieben die europäischen Nationalstaaten ihre Entscheidungsprozesse auf die europäische Ebene. Dies kann entweder intergouvernemental oder supranational geschehen, resultiert aber immer in starken Verflechtungen verschiedener Politik‑ und Akteursebenen und kann gleichzeitig sowohl zu stärkerer institutioneller und prozessualer Differenzierung als auch zu Homogenisierung innerhalb der europäischen Staatengruppe führen. Der Sammelband verschreibt sich einer kritischen Überprüfung der Fusionsthese anhand verschiedener aktueller Aspekte des europäischen Integrationsprozesses. Neben theoretischen Überlegungen zum Ursprung und zur Weiterentwicklung der These beschäftigen sich die Autoren mit Differenzierungs‑ und Fusionsvorgängen auf der Polity‑, der Policy‑, und der Politics‑Ebene der europäischen Integration. Rudolf Hrbek widerlegt die gängige Meinung und zeigt, dass Differenzierungsprozesse innerhalb der EU nicht zwangsläufig zu einer Fragmentierung führen müssen, sondern ebenso einen dynamischen Prozess zu weiterer Integration anstoßen können. Barbara Lippert stellt dar, wie die Erweiterung der EU die „less tidy“ (238) Eigenschaften des Systems gestärkt habe. Mehrere Autoren untersuchen die externen Politiken der EU, einem Feld, in dem sich die Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Fusion mit am stärksten zeigt. Insgesamt bestätigen die einzelnen Beiträge die gegebene Relevanz der Fusionsthese, weisen aber auch bestehende Herausforderungen hin; so müsse Fusion stärker von Integration abgegrenzt und die These auch für politische Akteure jenseits von Exekutiven geöffnet werden.