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Christian Meier

Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit

Berlin: Siedler Verlag 2010; 159 S.; 14,95 €; ISBN 978-3-88680-949-3
Als singuläres Ereignis hat der Holocaust eine Ausnahmesituation – eine „unabweisbare Erinnerung“ (13) – geschaffen, mit der eine jahrtausendalte Denktradition durchbrochen wurde. Der Historiker Meier nimmt zuerst den Faden dieser Denktradition auf, in deren Zentrum das Nichterinnern steht – beginnend mit der athenischen Amnestie von 404/3 vor Christus, als nach dem Ende eines Gewaltregimes das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft ermöglicht werden sollte. Diese Frieden stiftende Idee des Nichterinnerns und des Verzichts auf Rache der Sieger wie Besiegten sei dann von Cicero in die Idee des Vergessens schlimmer Vergangenheit umgewandelt worden – und diese Denktradition sei bis in die Gegenwart wirksam. Als ein Beispiel nennt Meier die südafrikanischen Wahrheitskommissionen nach dem Ende des Apartheid-Regimes. Auch sie dienten der Befriedung der Gesellschaft, die Gerechtigkeit musste das Nachsehen haben. Meier sieht in dieser Vorgehensweise also eine tief verankerte, auf die Zukunft gerichtete Form der Bewältigung des Vergangenen. Und er geht davon aus, dass in Deutschland nach 1945 diese Mechanismen griffen; auch habe der Gesellschaft die Kraft gefehlt, sich mit der eigenen Verantwortung für den Holocaust zu konfrontieren. Meier hält es für keinen Zufall, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzte, nachdem die erste Aufbauarbeit geleistet und die nächste Generation aufgewachsen war, sich alte Solidaritäten gelöst und die Menschen sich mit der Demokratie identifiziert hatten. Dass dadurch lange Jahre und Jahrzehnte für die Opfer und deren Angehörige Härten entstanden, obwohl ihnen doch Zuspruch und Entschädigung zugestanden hätten, steht für den Historiker außer Frage. Aber vor dem Hintergrund der Geschichte seit der Antike hält er es zumindest für erklärbar, warum etwa die Wehrmacht bis in die 90er-Jahre noch den Status der Unbescholtenen genießen konnte. Der Holocaust aber verbiete eine Fortsetzung des Vergessens, angesichts der Unzulänglichkeit der materiellen Entschädigung sei das Erinnern das, was noch für die Opfer getan werden könne. Meiers Überlegungen basieren auf 1996 gehaltenen und bereits publizierten, nun noch einmal überarbeiteten Vorlesungen. Sie werden in diesem Band durch einen weiteren Vortrag ergänzt, in dem er sich mit der Erinnerung an die DDR beschäftigt – die in vielerlei Hinsicht unglücklich verlaufen sei, etwa weil Unrecht strafrechtlich nicht zu fassen gewesen sei. Und weil die Ostdeutschen, nachdem sie das Regime selbst besiegt hatten, sich angesichts der westlichen Wirtschafts- und Deutungsübermacht ihre Identität aus den Lebensjahren in dem untergegangenen Land zu formen begannen.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.35 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Berlin: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/21625-das-gebot-zu-vergessen-und-die-unabweisbarkeit-des-erinnerns_38517, veröffentlicht am 07.09.2010. Buch-Nr.: 38517 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken