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Niels Dehmel: Wege aus dem Wahlrechtsdilemma. Eine komparative Analyse ausgewählter Reformen für das deutsche Wahlsystem

25.02.2021
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Autorenprofil
Daniel Hellmann
Baden-Baden, Nomos 2020

Das deutsche Wahlrecht befinde sich in einem Reformdilemma, weshalb Niels Dehmel Verbesserungspotenziale auslotet und schließlich zwei Lösungsoptionen erwägt: eine verständlichkeits- und eine beteiligungsorientierte personalisierte Verhältniswahl. Erstere würde das Zweistimmen- in ein Einstimmensystem mit Nebenstimme umwandeln. Dehmels zweite Reformoption sei insofern beteiligungsorientiert als sie die bislang geschlossenen Listen der Parteien öffne, sodass nicht nur die Liste an sich, sondern einzelne Personen auf der Liste bevorzugt gewählt werden könnten, schreibt Rezensent Daniel Hellmann.

Die Situation in der Wahlrechtsdebatte ist verfahren. Vorgaben des Verfassungsgerichts, parteipolitische Interessen und der Wunsch, das bestehende System zu behalten, erschweren die Suche nach Lösungen. Parteien- und Länderproporz müssen mit einer möglichst gleichbleibenden Regelgröße des Bundestages im Rahmen des etablierten Zweistimmensystems in Einklang gebracht werden. In dieses verminte Territorium wagt sich Niels Dehmel in seiner über 800 Seiten langen Dissertationsschrift an der TU Chemnitz. Leider reichen auch 800 Seiten am Ende nicht, um alle diese Probleme gleichermaßen zu beheben. Über diese Zielsetzung verschafft Dehmel direkt im ersten Satz richtigerweise Klarheit: „Es gibt kein bestes Wahlsystem“ (33), ein Tenor, der häufiger unterstrichen wird. Trotzdem gibt es Verbesserungspotenziale, die im Verlauf der Erörterung ausgelotet werden.

Da im Gebiet der Wahlsystemforschung kaum noch neue Ideen erdacht werden können, vergleicht Dehmel insgesamt 28 Reformoptionen aus den Bereichen der Wahlkreiseinteilung, der Kandidatenaufstellung, der Stimmgebung, der Sperrklauseln, der Überhang- und Ausgleichsmandate sowie des Wahlalters und der zeitlichen Rahmenbedingungen im Mehrebenensystem der Bundesrepublik. Während die ersten vier Elemente aus der Literatur (Dieter Nohlen, Jürgen Falter und Harald Schoen) hergeleitet werden, sind die Überhang- und Ausgleichsmandate explizit deutsche Probleme und werden aufgrund der verfassungsrechtlichen Gebotenheit ihrer Berücksichtigung mit einbezogen.

Etwas überraschend kommen hingegen Reformideen aus den Bereichen der Wahlaltersdebatte und der zeitlichen Synchronisierung von Wahlen daher. Diese Debatten sind ohne Zweifel wichtig, haben aber kaum Interaktionseffekte mit den anderen Elementen, sodass deren Behandlung in diesem Kontext die Reformdiskussionen eher überfrachtet (zumal später alle Reformoptionen aus diesem Bereich verworfen werden). Diese Wahlsystemeigenschaften werden anhand eines wiederum teilweise der Literatur entlehnten Analyserasters mit acht Kategorien (Stimmen-Mandate-Relation, Repräsentation, Konzentration, Effektivität, Partizipation, Zurechenbarkeit von Entscheidungen, Transparenz und Legitimität) untersucht.

Unter den vorgestellten Reformoptionen befinden sich altbekannte Ideen, wie die Öffnung von Listen, das Elternwahlrecht, Kompensationsmodelle und die generelle Absenkung der Fünfprozentsperrklausel. Einige Ideen, wenn auch nicht gänzlich neu, sind dennoch weniger bekannt und werden von Dehmel aufgeworfen. Dazu zählt die flexible Sperrklausel (512-518), bei der die Sperrklausel automatisch so herabgesetzt wird, dass maximal fünf Prozent der Wählerstimmen bei der Stimmverteilung nicht berücksichtigt werden. Die Folge wäre eine geringfügig höhere Zahl an Parteien (nicht Fraktionen, wie es bei Dehmel stellenweise heißt, siehe zum Beispiel Tabelle Seite 515) mit Bundestagsabgeordneten. Dies ist trotzdem ein innovativer Gedanke, der mehr Beachtung in der Fachdebatte verdienen würde.

In seiner abschließenden, mehrstufigen Betrachtung schließt Dehmel alle bis auf sechs Reformoptionen aus und schlägt grundsätzlich zwei Lösungsoptionen vor: eine verständlichkeitsorientierte und eine beteiligungsorientierte personalisierte Verhältniswahl (778-784). Erstere würde das bekannte Zweistimmensystem in ein Einstimmensystem mit Nebenstimme umwandeln. Die Wähler*innen würden mit ihrer Hauptstimme Direktkandidat*innen und Parteien wählen und hätten eine Nebenstimme, um zu verhindern, dass ihre Stimme nicht in die Mandatsverteilung eingeht, weil die mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Fünfprozenthürde scheitert.

Beteiligungsorientiert ist Dehmels zweite Reformoption dahingehend, dass sie die bislang geschlossenen Listen der Parteien öffnet, sodass nicht nur die Liste an sich, sondern einzelne Personen auf der Liste bevorzugt gewählt werden können. Ferner plädiert Dehmel unabhängig davon für die Abschaffung der Grundmandatsklausel.

Im Ergebnis gelingt damit das Zerschneiden des gordischen Knotens der Wahlrechtsreform leider nicht. Keine der Lösungen, die Dehmel entwirft ist geeignet, Überhang- und Ausgleichsmandate merklich zu reduzieren. Die entworfenen Reformen könnten die Leistungsfähigkeit des Wahlsystems dennoch verbessern, auch wenn sie selbst nicht unumstritten sind. Insgesamt kann man Dehmels ernüchternden Schlussbetrachtungen zustimmen: „Dennoch ist das Terrain für Reformen innerhalb des Gestaltungselements [gemeint sind Überhangs- und Ausgleichsmandate], nach einer Vielzahl minimal-invasiver Eingriffe weithin vermint. Zu filigran mutet das Konstrukt an, zu ungewiss wäre das Resultat einer erneuten Anpassung, weil nun weitere (zusätzliche) Variablen zu berücksichtigen sind.“ (790)

 

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