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Katrin Verena Franz: Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag – Architektur eines organschaftlichen Rechts

10.04.2019
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Autorenprofil
Dr. Max Lüggert
Berlin, Duncker & Humblot 2019
(Schriften zum Öffentlichen Recht 1393)

Das Recht, politischen Einfluss auf dem Wege von Wahlen und Abstimmungen geltend zu machen, ist eine der grundlegenden Voraussetzungen für jedes demokratisch verfasste Gemeinwesen. Die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen eine freie Entscheidung zwischen verschiedenen politischen Alternativen vornehmen zu können, ist ein ideengeschichtlicher Grundpfeiler der Demokratie, der bis in die Antike zurückreicht. 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich jedoch in Deutschland eine gewisse Gewohnheit mit dem Wahlrecht eingestellt, wodurch die materiellen und rechtlichen Hintergründe dieses Rechts nicht mehr unbedingt näher betrachtet werden.

Diese Lücke füllt Katrin Verena Franz, indem sie das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in ihrer Dissertation aus einer eher selten vertretenen Sichtweise vorstellt, nämlich als „organschaftliches Recht“. Dieser Begriff ist insbesondere als Gegenentwurf zu einem Wahlrechtsverständnis zu sehen, welches das Wahlrecht als grundlegendes bürgerliches Recht versteht – ähnlich also wie andere klassische Individualrechte wie das Recht auf Leben, freie Meinungsäußerung etc. Die Sichtweise des organschaftlichen Rechts grenzt sich von einem individualrechtlichen Verständnis des Wahlrechts ab. Franz versucht also darzulegen, weshalb das Wahlrecht nicht den einzelnen Wahlbürger*innen zugeordnet werden sollte, sondern stattdessen als ein Recht zu verstehen ist, welches das wahlberechtigte Volk kollektiv als Staatsorgan ausübt. Eine theoretische Einführung bildet den Beginn der Arbeit. Darin werden die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Wahlrecht dargestellt sowie anhand mehrerer historischer Beispiele eingeordnet. Neben der Darstellung der Entwicklung des Wahlrechts in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz nimmt die langjährige Verfassungsgeschichte Deutschlands großen Raum ein. Anhand der Reichsverfassung 1871, der Weimarer Verfassung und der Erarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat erfolgt eine umfassende Rekonstruktion der Entwicklung des Wahlrechts in Deutschland. Mit diesem Hintergrund befasst sich Franz zunächst eingehend mit der Vorstellung des Wahlrechts als Individualrecht, wobei sie dieses Verständnis als maßgeblich in der allgemeinen Diskussion ebenso wie in der höchstrichterlichen Interpretation betrachtet. Diese Sichtweise lehnt Franz mit verschiedenen, gut nachvollziehbaren Argumenten ab. Gegen ein individualrechtliches Verständnis des Wahlrechts sprechen ihrer Meinung nach unter anderem die Tatsachen, dass das Wahlrecht im Grundgesetz nicht im ersten Abschnitt zusammen mit den anderen Grundrechten erwähnt wird, dass Verletzungen gegen das Wahlrecht nicht in allen Fällen individuell zugeordnet werden können und dass das Wahlrecht nicht bedingungslos gilt, sondern an bestimmte Voraussetzungen (allen voran ein bestimmtes Alter) geknüpft ist.

Ausgehend von dieser Kritik formuliert Franz den Gegenentwurf eines organschaftlich verfassten Wahlrechts, wobei das Volk das Staatsorgan ist, dem dieses Recht zugestanden wird und das dieses Recht auch ausübt. In diesem Abschnitt widmet sich die Autorin auch dem berechtigten Einwand, dass ein Staatsorgan in der Regel einen gemeinsamen einheitlichen Willen formulieren sollte, um funktionsfähig zu sein. Gerade für das Volk, das an Wahlen und Abstimmungen teilnimmt, ist diese Funktion jedoch nicht zentral ausschlaggebend. Vielmehr gehört es zur Funktion des Wahl- und Abstimmungsvolks, auch unterschiedliche Interessen äußern zu können, damit sich diese anteilig in einem anderen Staatsorgan – wie zum Beispiel dem Deutschen Bundestag – niederschlagen. In diesem Abschnitt fällt jedoch auf, dass die Verwendung des Volksbegriffs nicht immer klar definiert erfolgt. So kann der Begriff Volk auch für das Thema der Arbeit unterschiedlich interpretiert werden: als Summe aller wählenden und abstimmenden Personen, als Summe aller Staatsbürger*innen oder noch weiter gefasst als Summe aller auf dem Gebiet eines bestimmten Staates lebenden Menschen. Nach der grundsätzlichen Klärung des Verständnisses des Wahlrechts als organschaftlichem Recht liefert Franz noch weitere Ausführungen zur Rolle des einzelnen Stimmbürgers/der einzelnen Stimmbürgerin – wobei sie auch die Zulässigkeit einer Wahlpflicht diskutiert – und zu den prozessualen Folgen, die sich aus dem Verständnis des Wahlrechts als organschaftlichem Recht ergeben.

Ein allgemeines Merkmal der Arbeit ist eine enge Führung des Themas. Die funktionalen und rechtlichen Eigenschaften des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag sind sehr ausführlich dargestellt, inklusive einer ausgewogenen und umfassenden Rezeption von Rechtsquellen, Sekundärliteratur und einschlägiger Rechtsprechung. Andere Fragen, die einen potenziellen Bezug zum Thema der Arbeit haben könnten, bleiben jedoch außen vor. So gibt es kaum Ansätze zum Vergleich mit dem Wahlrecht der einzelnen Bundesländer oder auch der europäischen Ebene. Ebenso wird kaum betrachtet, wie sich die Definition des stimmberechtigten Volkes auf die Legitimität des Wahlaktes auswirkt, obwohl es hierbei zu verschiedenen Mechanismen der Exklusion kommt, allen voran entlang des Alters und der Nationalität. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass Franz mit ihrer Arbeit einen fundierten Debattenbeitrag liefert, der eine Sichtweise auf das Wahlrecht eröffnet, die bis jetzt höchstens als Randmeinung vertreten wird.

 

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