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Samuel Salzborn: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten

27.03.2018
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Autorenprofil
Prof. Dr. Georg Kamphausen
Weinheim, Belzt Juventa 2017

In der Menge der Informationen, mit denen wir uns konfrontiert finden, nehmen die Informationen über diejenigen Teile der Wirklichkeit, zu denen wir keinerlei erfahrungsvermittelten Zugang haben, rasch zu. Die Ausdehnung unserer medialen Informiertheit ist historisch beispiellos. Aber es ist die Informiertheit einer erfahrungsverarmten Zuschauersubjektivität. Das bedeutet, so Hermann Lübbe, dass die soziale Reichweite unserer praxisvermittelten Weltkenntnis schrumpft. In der Beschreibung unserer Wirklichkeit reagieren wir darauf mit einem Arrangement weit gefasster Begriffe, die ziemlich beliebig vom Inhalt her angefüllt werden können, in der Beurteilung dieser Beschreibungen zumeist mit emotionalen Leerhülsen. Wer aber bestimmt nun die Bedeutsamkeit, die Reichweite sowie den empirischen Gehalt jener Begriffe, deren wir uns bei der Beschreibung unserer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit bedienen?

Der Verfasser ist ganz offensichtlich der Ansicht, dass Intellektuelle gleichwelcher Couleur die entscheidenden Stichwortgeber im politischen Raum sind. Dass man den Begriff des Intellektuellen dabei breiter fassen muss als dies bislang der Fall war, also neben dem Feuilleton auch Fernsehmoderatoren und Blogger umfasst, versteht sich heute von selbst. Dennoch stellt sich die Frage: Woher beziehen alle diese Konstrukteure von Wirklichkeitsbeschreibungen ihre begrifflichen „Instrumente des Denkens“ (Max Weber)? Samuel Salzborn spiegelt die gegenwärtigen Debatten um den sogenannten Rechtspopulismus vor dem Hintergrund eines (in aufklärerischer Absicht) „bewährten“ Begriffsapparates. Das ist gar nicht als Kritik gemeint, sondern soll nur auf den höchst problematischen Umstand hinweisen, dass Begriffe wie Neue Rechte, Neofaschismus, völkische Rebellion etc. aus der Asservatenkammer intellektueller Debatten stammen, die unter Umständen weder die (neuen, gegenwärtigen) politischen Bewegungen noch den ganz offensichtlichen Zerfall des etablierten Parteiensystems zu beschreiben in der Lage sind. Wie gesagt, auch der Rezensent weiß hier kein probates Mittel, möchte aber vorab darauf hinweisen, dass das alte Rechts-links-Schema zwar einen bekenntnisartigen Reflex erzeugt, aber wenig geeignet erscheint, die institutionellen, mentalen, kulturellen und ideenpolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Blick zu nehmen.

Sind also die Anhänger der AfD Antidemokraten und wenn ja, betreiben sie eine „völkische Rebellion“? Und was die Sache selbst betrifft: Handelt es sich um ein neues Phänomen, eine neue Bewegung oder um die publizistisch und öffentlichkeitswirksam erzeugte Aufmerksamkeitssteigerung mit Blick auf ein in den meisten sogenannten Volksparteien schlummerndes Potenzial ressentimentgetriebener Wutbürger, denen man zur besten Sendezeit und vermittels einer differenzvernichtenden Vertalkung des politischen Gesprächs eine eigene Bühne bietet? Der Autor hat recht: Die Medien sind nicht alleine schuld am Aufkommen und an der Verbreitung rechtspopulistischer, rassistischer und nationalistischer Argumente. Richtig ist aber auch: Die Verhöhnung der parlamentarischen Demokratie, die Personalisierung und Eventisierung von Politik, das Trommelfeuer des Anti-Institutionalismus, eine ruinöse Bildungspolitik, die den „Affekt gegen den Verstand“ (11) mobilisiert und Meinungen schon für Urteile hält, hat das dummdreiste Geschwätz von Menschen befördert, die eine Chance sehen, sich aus dem Windschatten ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit herauszubewegen.

Ich stimme dem Autor in fast allen „Herleitungen“ des Rechtsextremismus und der „völkischen Ideologie“ zu. Aber darf man ernsthaft glauben, dass der durchschnittliche Wähler der AfD, der nationalprotestantische Flügel der FDP, die ultrakonservativen Wähler der CSU (die genau so wenig „konservativ“ sind wie die „Linken“ fortschrittlich) sowie viele europakritischen Anhänger der Linken ihren „romantischen“ Volksbegriff auf Johann Gottfried Herder gründen? Darf man den wirren Unsinn, der heute unkommentiert in den Medien verbreitet wird, durch eine ideengeschichtlich korrekte Herleitung gleichsam „adeln“? Das ist nicht als Kritik an einem lesenswerten Buch gemeint. Aber was vermag der Hinweis auf Aufklärung und Vernunft angesichts einer auf die Fähigkeit zum Konsum reduzierten „Weltanschauung“ auszurichten? Sehr gut gefallen haben mir daher das Kapitel über die virtuellen Verschwörungswelten und die identitäre Mobilisierung von Affekten sowie die Anmerkungen zum sozialen „Bodensatz“ der „Antidemokraten“. Aber die Frage bleibt: Was tun?

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Samuel Salzborn

Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015; 201 S.; 29,- €; ISBN 978-3-8487-2324-9
Samuel Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Georg‑August‑Universität Göttingen, verbindet mit seiner Überblicksdarstellung zur Geschichte der politischen Theorien in der Moderne zwei nicht umstandslos zu vereinbarende Ansprüche. Das Buch soll zwar Einführungscharakter haben, jedoch ohne – wie im Falle eines Lehrbuchs – durchgehend an die herrschenden Sichtweisen des Teilbereichs Ideengeschichte gebunden zu seiin. Die beabsichtigte Abweichung von den Konventionen ...weiterlesen


Dana Ionescu / Samuel Salzborn (Hrsg.)

Antisemitismus in deutschen Parteien

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014; 323 S.; brosch., 59,- €; ISBN 978-3-8487-0555-9
Die Beiträge stellen eine „Verbindung von Antisemitismus‑ und Parteienforschung“ her, wobei sie „gleichermaßen einen einführenden wie punktuell vertiefenden Charakter haben und einen ersten Zugriff auf den Gegenstand eröffnen sollen“ (10), wie Dana Ionescu und Samuel Salzborn die Zielsetzung des Sammelbandes skizzieren. Die Autor_innen, von denen die meisten an der Universität Göttingen arbeiten, untersuchen alle überregional agierenden Parteien, die im Jahr 2013 in mindestens einem Landesparlament vertreten waren. Um antisemitische Tendenzen ausfindig ...weiterlesen


Samuel Salzborn

Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014 (Studienkurs Politikwissenschaft); 149 S.; 17,99 €; ISBN 978-3-8252-4162-9
Der Göttinger Politikwissenschaftler Samuel Salzborn liefert auf 118 Seiten eine vollständige Einführung ins Themenfeld Rechtsextremismus. Am Ende eines jeden Kapitels regt er mit Übungsaufgaben zur Reflexion an und gibt Hinweise zu weiterer Einführungs‑ sowie zu weiterführender Literatur. In der zunächst erforderlichen Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus usw. benennt er die zentralen Definitionen, Aspekte und Streitfragen,...weiterlesen


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