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Jan Ilhan Kizilhan / Alexandra Cavelius: Die Psychologie des IS. Die Logik der Massenmörder

13.02.2017
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Autorenprofil
Jannis Jost, M.Litt.
Berlin u. a., Europa Verlag 2016

Die Motivationen, die hinter terroristischen Gewalttaten stehen, stoßen seit jeher vor allem auf Unverständnis – abgesehen vielleicht von einem relativ kleinen Kreis von Sympathisanten. Was den sogenannten Islamischen Staat (IS) angeht, potenziert sich dieses Unverständnis allerdings zu fassungslosem Grauen. Die Gründe dafür sollten auf der Hand liegen – und falls nicht, wird der Leser im Klappentext sowie auf der dritten Seite (und von dort an regelmäßig) erinnert: „Auf Pfähle aufgespießte Schädel, gekreuzigte Menschen am Straßenrand, in Säurebottiche geworfene Männer [...]“ (13) zeugen von der extremen Brutalität des IS. Dass derartige Exzesse charakteristisch für diesen sind, ist unbestritten. Ob nun ihre Schilderung eindrücklich oder reißerisch ist, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden. Fest steht jedoch, dass große Teile dieses Buches eine nur schwer erträgliche Lektüre sind.

Was Die Psychologie des IS von anderen Büchern zum Thema abhebt, ist das Zustandekommen und der daraus resultierende Aufbau. Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan, anerkannter Experte für Traumapsychologie, betreute in den vergangenen Jahren mehr als tausend jesidische Frauen und Kinder, nachdem sie vom IS versklavt und auf das Schwerste misshandelt worden waren. Er und die Autorin Alexandra Cavelius, die auf Biografien von Frauen spezialisiert ist, veröffentlichen nun einige der Erfahrungsberichte und analysieren anhand dieser die Täterpsychologie. Dabei steht je ein ausführlicher, in der ersten Person gehaltener biografischer vor einem analytischen Teil, der auf Aspekte des vorangegangenen Fallbeispiels Bezug nimmt, aber auch weiter abstrahiert. Die Erlebnisse von insgesamt neun Personen machen die Erfahrungsberichte aus: fünf Frauen, die zu Sexsklavinnen gemacht wurden, ein Kind, das als Soldat dienen musste, ein Überlebender einer Massenhinrichtung, ein IS-Kämpfer und eine junge Französin, die sich freiwillig dem IS anschloss, dort aber ebenfalls misshandelt wurde und schließlich desillusioniert floh. Diese jeweils circa 20 Seiten langen biografischen Teile sind der stärkste Aspekt des Buches. Es wird den Opfern selbst überlassen, worüber sie mit welchen Worten in welchem Umfang reden wollen (so scheint es zumindest – mehr dazu unten). Das Ergebnis sind authentische, zutiefst verstörende Einblicke in individuelle Schicksale und in Alltagsaspekte der IS-Herrschaft. Dazu zählt zum Beispiel das Selbstverständnis der Ehefrauen von IS-Kämpfern, die in manchen der Berichte das Leid ihrer jesidischen Gefangenen teilen und lindern, während sie in anderen Berichten deren Vergewaltigung durch ihre Ehemänner als quasi religiösen Akt glorifizieren. Der Authentizität ist es auch zu verdanken, dass das Buch bei dem schwierigen Balanceakt zwischen Eindrücklichkeit und „Torture Porn“ meist nicht kippt, was man von Absatzüberschriften wie „Die Waffe an der Schläfe: Nackt! Panisch! Ausgeliefert!“ (185) oder „Schräge Männerfantasien: Dschihadistinnen als IS-Sexpuppen“ (383) leider nicht behaupten kann.

Die analytischen Teile werden unvermeidlich von der Wirkmacht der biografischen Abschnitte etwas überstrahlt. An einigen Stellen sprechen die Autoren über die Spätfolgen für die Opfer, den Behandlungsprozess oder über die Fehler, mit denen etwa Nachrichtendienste bei Befragungen die Traumata verschlimmern können. Diese Teile schließen organisch an die Erfahrungsberichte an und sind sehr interessant. Man fragt sich, was einem Buch im Wege gestanden hätte, das auch den analytischen Fokus auf den Opfern belässt, anstatt ihn auf die Täter zu verschieben. Diesen Einwand antizipierend schreibt (vermutlich) Kizilhan: „All diese Ereignisse haben mich manchmal hilflos, aber auch zornig gemacht. Mitgefühl für die Opfer und Solidarität ist wichtig, reicht aber nicht aus, weil sich diese Tragödien und Schicksale wiederholen werden. Es darf nicht sein, dass eine Rhetorik der Trauer zu einem begleitenden Ritual des Terrors wird, wir darüber jedoch vergessen, die Ursachen dafür zu analysieren.“ (14) Sowohl sachlich als auch emotional kann man Kizilhans Aussage hier mehr als nachvollziehen. Damit sich emotionales Engagement und wissenschaftliche Validität nicht in die Quere kommen, bedarf es allerdings einer sauberen Methodik. Informationen dazu fehlen leider, vermutlich weil sich das Buch primär an ein nicht-wissenschaftliches Publikum richtet. Da das Erstellen von psychologischen Analysen auf Basis der Aussagen Dritter eine delikate Angelegenheit ist, wären aber gerade Details zur Datenerhebung wichtig gewesen. Auch ist nicht immer eindeutig, welche Informationen zu den Schlussfolgerungen in den Analyseteilen führen. Wenn die Autoren zum Beispiel bei Abu Bakr al-Baghdadi schwere individuelle und kulturelle Minderwertigkeitskomplexe vermuten (49), basiert ihre Schlussfolgerung dann auf dem voranstehenden Erfahrungsbericht von al-Baghdadis ehemaliger Sklavin „Amina“? Oder auf aggregierten Informationen aus Kizilhans „Untersuchungen mit Hunderten Überlebenden [...und] Interviews mit den Tätern“ (15)? Oder auf anderweitigen Quellen? Aufgrund des Fehlens eines Methodikteils und des sparsamen Gebrauchs von Fußnoten (44 auf 418 Seiten) bleibt der Analyseprozess eher im Dunkeln. Dieser Umstand springt vor allem deshalb ins Auge, weil die Analysen häufig einen Sprung von der Mikroebene der Erfahrungsberichte auf die kulturalistische Makroebene hinlegen. Die Autoren betonen die Gewalthistorie der Region, die wiederum die Methoden der Konfliktaustragung beeinflusst: „Kultur hat Gewalt integriert. Dabei hat die Kultur des Mittleren Ostens die Gewalt geformt, und die Gewalt hat daraus wieder die neue Kultur geformt.“ (299) Die Auswirkungen setzen sich bis auf die individualpsychologische Ebene fort, zum Beispiel in Form des patriarchalisch bedingten Gehorsamsverständnisses, das dem IS die Eingliederung von Rekruten erleichtert. Anders als so viele andere Veröffentlichungen zum Thema IS wird in dem Buch dann dementsprechend auch – wenn überhaupt – eher auf die kulturelle Rolle von Religion als auf ihre Inhalte geblickt.

Für Leserinnen und Leser, die sich mit dem IS als Politikum, als Forschungsobjekt oder als Sicherheitsbedrohung befassen, empfiehlt sich Die Psychologie des IS als eine mahnende Hintergrundlektüre, um ob der analytischen Distanz nicht das menschliche Leid zu vergessen, das diese Gruppe zu verantworten hat. Für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit ist das Buch aber aufgrund seiner intransparenten Methodik weniger geeignet. Nichtsdestoweniger präsentieren Kizilhan und Cavelius einige interessante Impulse für die Gewalt- und Radikalisierungsforschung, besonders was kulturelle Faktoren angeht. Diejenigen, die sich dafür interessieren, seien auf den Artikel von Kizilhan und Salman in der Zeitschrift „Trauma und Gewalt“ (2015) verwiesen, der die Eckpunkte der Argumentation knapp und kohärent zusammenfasst.

 

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