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Harald Schoen et al. (Hrsg.): Voters and Voting in Context. Multiple Contexts and the Heterogeneous German Electorate

16.01.2019
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Autorenprofil
Assistant Professor Stefan Müller
Oxford, Oxford University Press 2017

Wie beeinflussen Kontextfaktoren die Meinungsbildung und Wahlentscheidung? Anhand von quantitativen Analysen des umfassenden Datenmaterials der German Longitudinal Election Study (GLES) aus den Jahren 2009 und 2013 analysieren prominente deutsche Parteien- und Wahlforscher*innen den Einfluss von Medien, Debatten und Wahlkampfkommunikation auf das Wahlverhalten. Die GLES beinhaltet Querschnitts- und Längsschnittumfragen, eine Umfrage von Kandidat*innen, die Analyse der TV-Duelle zwischen Spitzenkandidat*innen und eine umfassende manuelle Kodierung der Medienberichterstattung. Die elf empirischen Beiträge des Bandes basieren auf diesen Datensätzen und zeigen, welch vielschichtige Fragestellungen mittels der GLES beantwortet werden können.

In der Einleitung präsentieren die Herausgeber*innen ein theoretisches Modell, das die wichtigsten Einflüsse auf das Wahlverhalten skizziert. Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung können demnach durch Einstellungen und Wahrnehmungen erklärt werden, die wiederum von „fernen“ Kontexteinflüssen, wie zum Beispiel Institutionen und sozialen Verhältnissen, aber auch von „nahen“ Faktoren, vor allem Kommunikationsstrategien von Parteien und Medien, beeinflusst werden. Alle Kapitel des Bandes orientieren sich explizit oder implizit an diesem theoretischen Modell, woraus eine kohärente und logische Verknüpfung der Kapitel resultiert.

Die ersten beiden Beiträge sind der Medienberichterstattung gewidmet. Julia Partheymüller untersucht Dynamiken des Agenda-Settings während der Wahlkämpfe 2009 und 2013 und testet unter anderem die Hypothese, dass sich Agenda-Cueing-Effekte nicht in dem Bewusstsein der Wählerschaft verfestigen. Außerdem vermutet die Autorin, dass lediglich Informationen, die kurz vor der Wahl an Wichtigkeit gewinnen, die Wahlentscheidung beeinflussen. Diesen Hypothesen wird nachgegangen, indem handkodierte Medienartikel der wichtigsten Zeitungen und TV-Sender mit den von Befragten als am wichtigsten erachteten Politikbereichen verglichen werden. Für lediglich zwei Politikfelder – Verteidigungspolitik (2009) und internationale Politik (2013) – findet Partheymüller Agenda-Setting-Effekte, doch auch diese Politikfelder scheinen schnell wieder aus dem Gedächtnis der Wählerschaft zu verschwinden. Daraus schlussfolgert sie, dass die Medienberichterstattung den Wahlausgang in den Jahren 2009 und 2013 – wenn überhaupt – nur sehr begrenzt beeinflusst hat.

Agatha Kratz und Harald Schoen nutzen einen ähnlichen Ansatz und analysieren die Salienzen von Politikbereichen in den Medien und der Wählerschaft. Basierend auf Regressionsmodellen finden sie starke Effekte für die Migrationspolitik und die Finanzkrise: Ein zehnprozentiger Anstieg der Berichterstattung über das jeweilige Politikfeld erhöhe die Wahrscheinlichkeit um etwa 35 Prozent, dass Befragte eines der beiden Themen als das wichtigste politische Problem nennen. Diese Ergebnisse scheinen den Schlussfolgerungen von Partheymüller teilweise entgegenzustehen. Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeber*innen diese unterschiedlichen Resultate in der Schlussbetrachtung etwas expliziter diskutiert hätten.

Aiko Wagner und Elena Werner prüfen anhand von Panelbefragungen, ob das Schauen der TV-Duelle die „weiß nicht“-Antworten zu den Positionen von Parteien in drei ausgewählten Politikfeldern reduziert hat. Befragte, die die Debatte verfolgt hatten, gaben unsichere Antworten hinsichtlich der Positionierung von Union und SPD zum Thema Kriminalitätsbekämpfung. Dieses Politikfeld wurde kaum in der Debatte diskutiert. Für europäische Finanzhilfen finden die Autor*innen jedoch die erwartete Beziehung. Das Thema war wenig prominent in der Medienberichterstattung, wurde jedoch ausgiebig während des TV-Duells besprochen. Zuschauer*innen der Debatte waren häufiger in der Lage, die Parteien in diesem Politikfeld ideologisch zu positionieren. TV-Duelle scheinen demzufolge womöglich bei zuvor vernachlässigten Themen zu Informationseffekten zu führen.

Maria Preißinger untersucht mittels der Panel-Struktur der GLES, welche Kontextfaktoren zum Zeitpunkt der Wahlentscheidung beitragen. In beiden Bundestagswahlen waren sich die Hälfte der Befragten bereits in der ersten Umfrage sicher, welche Partei sie wählen werden, während ein Viertel von ihnen erst in der letzten Befragungswelle eine Entscheidung traf. Die meisten Wähler*innen entscheiden sich demzufolge sehr früh oder sehr spät. Durch die Verknüpfung von handkodierter Medienberichterstattung und der individuellen Mediennutzung zeigt Preißinger, dass eine „parteiische Berichterstattung“ von ARD und ZDF kaum einen Einfluss auf den Zeitpunkt der Wahlentscheidung hat. Allerdings berichten beide Fernsehsender recht neutral, verglichen mit anderen Sendern und Zeitungen. Da nur diese öffentlich-rechtlichen Sender betrachtet werden, sollten die zu erwartenden Effekte grundsätzlich gering sein. Die TV-Debatte, Unterhaltungen über eine Partei mit Personen aus dem Bekanntenkreis und persönlicher Kontakt zu Politiker*innen erhöhten die Wahrscheinlichkeit einer Festlegung der Wahlentscheidung, so das Fazit. Interessanterweise sei der Einfluss der TV-Debatte 2009 mehr als doppelt so groß gewesen wie 2013. Dieser markante Unterschied wird leider nicht tiefergehend erläutert.

Insgesamt werden mit dem Buch nicht nur relevante Forschungsergebnisse über Determinanten der Wahlentscheidungen in Bundestagswahlen und den (begrenzten) Einfluss von Medienberichterstattung präsentiert. Darüber hinaus wird veranschaulicht, wie die beeindruckende Datenvielfalt der GLES genutzt werden kann, um Fragestellungen zu Wahlen und dem Wahlverhalten aus vielen Perspektiven zu beantworten. Lobenswert ist zudem, dass sämtliche Replikationsmaterialien online verfügbar sind. Obwohl die Bundestagswahl 2017 nicht einfließt, lassen sich in zukünftigen Studien die Ergebnisse des Bandes mit der letzten Wahl vergleichen, da diese Daten auch 2017 erhoben wurden. Es bleibt zu hoffen, dass Daten in einem ähnlichen Ausmaß auch für zukünftige Bundes- und Landtagswahlen erhoben werden.

 

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