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Thorsten Faas / Dietmar Molthagen / Tobias Mörschel (Hrsg.): Demokratie und Demoskopie. Machen Zahlen Politik?

01.06.2017
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Dr. Hendrik Träger
Wiesbaden, Springer VS 2017

In den 18-Uhr-Prognosen von ARD und ZDF für die nordrhein-westfälische Landtagswahl 2017 lagen CDU und SPD vier Prozentpunkte auseinander. Laut vorläufigem Ergebnis waren es dann aber nur 1,8 Prozentpunkte. Der Abstand hatte sich also binnen weniger Stunden halbiert. Daran wird deutlich, wie groß die Fehlertoleranzen bei Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten sein können.

Über die Demoskopie wird seit jeher kontrovers diskutiert. Das kann angesichts der häufigen „Sonntagsfragen“ und der medialen Berichterstattung über jede noch so kleine Veränderung bei den Werten kaum verwundern. Vor diesem Hintergrund ist es sehr erfreulich, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) 2014 eine Konferenz über das Verhältnis von Demoskopie und Demokratie unter der Fragestellung „Machen Zahlen Politik?“ veranstaltete. Die Tagungsbeiträge wurden jetzt in dem Sammelband unter der Herausgeberschaft des Mainzer Politikwissenschaftlers Thorsten Faas sowie der FES-Mitarbeiter Dietmar Molthagen und Tobias Mörschel publiziert. Zu dem Autorenteam gehören Politik- und Kommunikationswissenschaftler, Juristen, Journalisten, Politiker und Mitarbeiter von Meinungsforschungsinstituten, sodass das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird.

In der Einleitung konstatieren die Herausgeber „eine Tendenz zur ‚Stimmungsdemokratie‘“ und beschreiben, „dass die häufige Auseinandersetzung mit demoskopischen Daten [...] zu der beklagten Inhaltsarmut beigetragen hat“ (4). Anschließend präsentiert Faas „einige (ein)leitende Überlegungen“ (7) zur Demoskopie: Er kritisiert „ein[en] höchst unübersichtliche[n] Prozess [...] in einem dynamischen Marktumfeld mit vielen beteiligten Akteuren (Auftraggebern wie Erhebungsinstituten)“ (12), skizziert Herausforderungen bei der Datenerhebung (zum Beispiel geringer werdende Beteiligungsquoten), sieht angesichts von Umfragewerten mit Nachkommastellen „die Belastbarkeit der Zahlen erheblich“ (18) überstrapaziert und fordert eine „größtmögliche [...] Transparenz“ (16). Eine konkrete Reform schlägt der Medienjurist Thomas Vesting vor: Der Gesetzgeber könne im Rahmen „einer Vorsorgestrategie“ (38) einerseits den Demoskopen Freiräume lassen und andererseits die Veröffentlichung von Umfragen kurz vor Wahlen verbieten.

Der ZEIT-Journalist Peter Dausend sieht – mit einer ordentlichen Portion (Selbst-)Kritik gegenüber seinem Berufsstand – „eine Bestätigungsspirale zwischen Berichterstattung und Umfrageergebnissen“: Die Medien würden „zu Gefangenen einer Wirklichkeit, die sie selbst erst erschaffen“ (45). Konkrete Vorschläge, wie die „permanente [...] Meinungsbeschallung“ (55) reduziert werden kann, liefert er leider nicht. Ähnlich kursorisch bleibt Yasmin Fahimi: Die ehemalige SPD-Generalsekretärin charakterisiert die Umfragen als „ein Mittel der Politik, um eigene Interessen durchzusetzen“ (61) und fordert pauschal einen kritischeren Umgang von Politikern mit Umfragen. Erstaunlich wenig Selbstkritik enthält der Beitrag von Yvonne Schroth. Als Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen scheint sie hauptsächlich Politiker und Journalisten in der Pflicht zu sehen: Die Bürger hätten ein Recht auf aktuelle Umfragen; Politik und Medien würde schließlich „kurz vor der Wahl auch nicht verboten, Meinungen öffentlich darzulegen, aus Furcht, sie könnten Wähler beeinflussen“. Allerdings sollten die Medien „mehr darauf achten, zwischen seriösen und unseriösen Daten [...] zu unterscheiden“ (85). Außerdem sollten sie ihre Berichterstattung verbessern und weniger Umfrageergebnisse publizieren. Wenn aber, wie von Schroth gefordert, die Bürger bis zuletzt informiert werden sollen, wird es für die Medien schwierig, keine Umfragen zu veröffentlichen.

Im Gegensatz zu Schroth sieht Martin Fehndrich die Umfrageinstitute stärker in der Verantwortung: Der Betreiber des Portals wahlrecht.de kritisiert, dass „die Annahmen, die von der Stimmung zur Projektion führen, als Betriebsgeheimnis gehütet werden“ (92), sodass die Bürger im Unklaren bleiben. Deshalb plädiert er für „eine Art freiwillige transparenzschaffende Selbstverpflichtung, vergleichbar dem Pressekodex“ (94); gegebenenfalls solle der Gesetzgeber „die Bildung einer Art Umfrage-TÜV oder einer Stiftung Umfragetest unterstützen“ (93).

Mit den Auswirkungen von Umfragen auf das Wählerverhalten beschäftigen sich Hanna Hoffmann sowie Carsten Reinemann und Thomas Zerback in ihren wissenschaftlich fundierten Analysen: Hoffmann erkennt anlässlich der Wahl 2013 „einen Beleg für Umfragewirkungen auf die Wahlbeteiligung, die bei den vorherigen Bundestagswahlen nicht nachgewiesen werden konnten“ (110). Auf der Basis ihrer mixed methods-Studie aus einer Panelbefragung und einer Medienanalyse kommen Reinemann und Zerback zu dem interessanten Befund, „dass die erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf den Einzug in den Bundestag [...] auch bei den durchschnittlichen Mediennutzern und Wählern nicht eben präsent war“ (137). Diese Unwissenheit wirkte sich letztlich negativ auf die Liberalen aus, denn „die allzu optimistischen Erwartungen (wishful thinking)“ (147) unter Anhängern von Schwarz-Gelb hätten zum Fehlen von entscheidenden Leihstimmen für die FDP beigetragen.

Den Herausforderungen und künftigen Aufgaben der Politikforschung widmen sich Rainer Stocker und Jana Faus: Der ehemalige Projektleiter von TNS Infratest Politikforschung sieht methodische und inhaltliche Herausforderungen. Nur „wenn strategische Forschung gut und seriös gemacht ist, kann sie helfen, die Meinung, das Verhalten und die Bedürfnisse von Individuen besser einzuschätzen und in die Gestaltung von Politik einfließen zu lassen“ (161). Und die Geschäftsführerin von pollytix strategic research kritisiert, dass „[p]olitikferne Nichtwähler [...] durch das Raster der Forschung“ (164) fallen, denn die Politik benötige „Anleitungen [...], wie sie mit Politikfernen und Nichtwählern in Dialog treten kann“ (175). Deshalb schlägt Faus neue Methodenansätze und Verfahren vor.

 

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