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Torben Lütjen: Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert

29.03.2021
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Autorenprofil
Sebastian Hünermund, M.A.
Darmstadt, WBG Theiss 2020

Torben Lütjen zeigt die strukturellen Bedingungen für die extreme Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und Politik auf. Die „historische Sattelzeit der Polarisierung“ reiche von den frühen 1960er- bis zu den frühen 1980er-Jahren zurück. In dieser Zeit hätten sich drei Spaltungslinien ausgeprägt, an denen der amerikanische Konsens nach und nach zerbrochen sei. Zudem habe eine zu starke Individualisierung dazu geführt, dass sich die Bürger*innen in ideologischen Echokammern bewegten. Nicht Trump habe also die Polarisierung geschaffen, sondern die Polarisierung Trump – mit erheblichen Folgen für die institutionelle Ordnung.

Eine Rezension von Sebastian Hünermund

In den vergangenen fünf Jahren haben Bücher über die Präsidentschaft Donald Trumps die Bestseller-Listen diesseits und jenseits des Atlantiks dominiert. Überaus erfolgreich waren beispielsweise jene Publikationen, die vom Washington-Post-Journalisten Carlos Lozada als „Heartland-Chroniken“ bezeichnet wurden: also die vielfach unternommenen Versuche von Journalist*innen und Sozialwissenschaftler*innen, in die Lebensrealitäten typischer Trump-Wähler*innen vorzudringen, um somit den Sieg Donald Trumps bei der Wahl 2016 besser verstehen zu können. Schnell unübersichtlich wird es auch angesichts einer Vielzahl an Skandal- und Enthüllungsbüchern über die teilweise chaotischen Zustände innerhalb der Trump-Administration.

Das Buch „Amerika im Kalten Bürgerkrieg“ des Politikwissenschaftlers Torben Lütjen schlägt keinen dieser beiden Wege ein. Vielmehr geht es dem Autor darum, die strukturellen Bedingungen für die extreme Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und Politik freizulegen und deren Auswirkungen zu analysieren. Die Präsidentschaft Trumps wird angesichts dieses Vorhabens zwar nicht ohne Weiteres ausgeklammert. Sie bildet jedoch keineswegs den Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung.

Der Beginn des Buches handelt folglich von der Vergangenheit. Lütjen identifiziert eine „historische Sattelzeit der Polarisierung“ (25), die von den frühen 1960er- bis zu den frühen 1980er-Jahren zurückreicht. In dieser Zeit hätten sich drei entscheidende Spaltungslinien ausgeprägt, an denen der amerikanische Konsens nach und nach zerbrach. So waren es zu Beginn der 1960er-Jahre die Protestaktionen der Bürgerrechtsbewegungen unter der Führung von Martin Luther King Jr., die zu einer Veränderung der Machtbalance innerhalb der Demokratischen Partei führten. Der liberale Flügel versuchte mit einer Reihe von Interventionen die faktische Rassentrennung in den USA aufzuheben. Dies hatte allerdings zur Folge, dass viele konservative Südstaaten-Demokraten zur Republikanischen Partei überliefen, was innerhalb der Politikwissenschaft oftmals als „Southern Realignment“ bezeichnet wird. Aus den einstmals pragmatischen Managern der Macht entwickelten sich langsam aber sicher ideologisch homogene Parteien.

Parallel dazu wurden die traditionellen Wertvorstellungen, Hierarchien und Rollenbilder durch einen tiefgreifenden Liberalisierungsschub herausgefordert. Während die liberal protestantischen Kirchen einen erheblichen Mitglieder*innenschwund erlitten, verzeichneten die evangelikalen konservativen Kirchen einen rasanten Zulauf.

Letztere hätten sich den Kampf gegen Abtreibung, Pornografie und Homosexualität auf die Fahnen geschrieben und wurden fortan von weiten Teilen des politischen Konservativismus in ihrem Kampf gegen die liberale Moderne unterstützt. Somit mündete die Politisierung der Religion in eine weitere Frontstellung zwischen den Republikanern und Amerikas konservativen Christen einerseits sowie den Demokraten und tendenziell progressiven Glaubensgemeinschaften andererseits.

Die dritte Konfliktlinie verläuft Lütjen zufolge primär entlang der klassischen Links-rechts-Achse und dreht sich primär um die Frage nach mehr oder weniger staatlicher Einmischung in Wirtschaft und Gesellschaft. Auch hier begnügt sich der Autor nicht mit simplen Darstellungen oder Schlagwörtern, sondern zeigt auf, wie es der republikanischen Partei seit Mitte der 1960er-Jahre gelang, aus libertären, wohlhabenden Bürger*innen und waffenvernarrten Milizionären eine schlagkräftige „anti-government coalition“ (40) zu formen.

Während das erste Kapitel darlegt wer mit wem und worüber streitet, macht Lütjen im zweiten Kapitel deutlich, warum der Streit entlang dieser Bruchlinien so derart heftig ausfällt. Kurzum: die Paranoia, der Hang zum Verschwörungsdenken und eine über die inhaltlichen Positionen hinausreichende gegenseitige Abneigung der Parteilager.

Aufschlussreich wird beispielsweise dargelegt, unter welchen Umständen ein Übermaß an individueller Freiheit für moderne Gesellschaften gefährlich werden kann. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einer paradoxen Individualisierung. Dies lasse sich in den USA beobachten und führe gerade nicht dazu, dass sich die Menschen offener und undogmatischer gegenübertreten: „Erst die Freiheit der Wahl hat sie zu Ideologen gemacht, weil sie ihnen ermöglicht, ein Leben ohne Irritationen und kognitive Dissonanzen zu führen.“ (49) Oder anders ausgedrückt: Man wählt, nicht ständig die Wahl haben zu müssen. In Verbindung mit digitalen wie auch analogen Echokammern und einer Verquickung von Politik und Lebensstilen bliebe kaum noch genügend Raum für Differenzierungen oder Ambivalenzen. Lütjen weist zwar ausdrücklich darauf hin, dass die moderaten Zwischentöne noch existieren. Aber in der politischen Realität des Landes spielten die moderaten Positionen der Mitte keine größere Rolle mehr.

Als Donald Trump 2016 ganz offiziell die politische Bühne betrat, war die populistische Saat in Gesellschaft und Politik also bereits gesät. Nicht Trump habe die Polarisierung geschaffen, so Lütjen, sondern die Polarisierung Donald Trump mit teilweise verheerenden Folgen für die institutionelle Ordnung. Diesen widmet sich Lütjen ausführlicher im letzten Kapitel.

Eine weitere Stärke des Buches besteht darin, dass der Autor nicht nur einseitig auf die Rolle der republikanischen Partei blickt. Auch Teile der Demokraten sowie die amerikanische Linke hätten sich in einer Art von Feindesimmitation verändert: „In dem Bemühen, sich so stark wie möglich abzugrenzen vom Gegner und die Trennlinien so stark wie möglich zu ziehen, laufen die Demokraten Gefahr, sich ebenfalls zu radikalisieren“ (140). Denn Polarisierung und das Bedürfnis nach maximaler Eindeutigkeit, so Lütjen, verstärkt das extreme Gruppendenken bei Republikanern und Demokraten. Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der sogenannten Identity Politics, auf den populistischen Zeitgeist linker Bewegungen wie Occupy Wall Street („We are the 99 percent“) oder eine stark ausgeprägte „Wir-gegen-die-Rhetorik“ des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und seiner Anhänger.

Der Autor will angesichts dieser Entwicklungen aufzeigen, dass der auf die beiden amerikanischen Politologen Thomas Mann und Norman Ornstein zurückgehende Begriff einer „asymmetrischen Polarisierung“ kaum Substanz besitzt. Allerdings ist diese Argumentation wenig überzeugend und so ist es auch Lütjen selbst, der an mehreren Stellen des Kapitels davor warnt, beide Parteien in dieser Hinsicht gleichzusetzen.

Insgesamt besticht das Buch durch eine stets nachvollziehbare Struktur sowie durch hellsichtige Analysen. Historische, politikwissenschaftliche und soziologische Forschungsergebnisse werden immer wieder klug miteinander verknüpft und sehr gut lesbar aufbereitet. In Kombination mit Lütjens geschliffenem Schreibstil entsteht somit eine kompakte und überaus lesenswerte Spurensuche der Polarisierung und dessen Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft in den USA.

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