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Ein Ausweg aus der Sackgasse. Mit einem zweistufigen Währungsverbund die Finanzkrise lösen

09.02.2018
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Prof. Dr. Fritz W. Scharpf, Direktor emeritus

 

Die Zukunft der EU wäre durch einen zweistufigen europäischen Währungsverbund sicherer als heute, meint Fritz W. Scharpf. Foto: PixabayDie Zukunft der EU wäre durch einen zweistufigen europäischen Währungsverbund sicherer als heute, meint Fritz W. Scharpf. Foto: PixabayDie Eurokrise war die Folge der strukturellen Divergenz zwischen den exportorientierten Hartwährungsländern im „Norden“ und den von der Binnennachfrage abhängigen Weichwährungsländern im „Süden“. Das nach der Krise eingeführte neue Euro-Regime beschränkt die Binnennachfrage durch fiskalische Austerität und Maßnahmen zur Lohndämpfung, um auf diese Weise die Konvergenz der Südländer mit den exportorientierten Strukturen der Hartwährungsländer zu erzwingen. Der Erfolg der strukturellen Transformation setzt freilich die Zerstörung von Produktionspotenzialen und Arbeitsplätzen im Binnensektor der früheren Weichwährungsländer voraus. Ein so einseitiges, den Norden privilegierendes und Opfer nur im Süden erforderndes Programm hätte in der autonomen demokratischen Politik der Südländer keine Chance gehabt. Es musste also oktroyiert werden. Aber auch auf der europäischen Ebene konnte es nur in technokratisch-intergouvernementalen Prozessen durchgesetzt werden, die eine Politisierung des fundamentalen Nord-Süd-Verteilungskonflikts unterdrücken müssen. Trotzdem lassen sich politische Forderungen kaum noch abwehren, die auch symmetrische Anpassungsleistungen im Norden und den raschen Abbau der deutschen Exportüberschüsse verlangen. Insbesondere wegen der Größe und der strukturellen Besonderheit der deutschen Wirtschaft erscheinen sie freilich kaum aussichtsreich. Die gegen deutsches Widerstreben vielleicht durchsetzbaren Vorschläge zur Vergemeinschaftung finanzieller und fiskalischer Risiken tendieren zu einer Transfer-Union, die die ökonomische und politische Spaltung der Eurozone noch weiter vertiefen könnte.

Das Krisenpotenzial strukturell heterogener Mitgliedswirtschaften bedroht also die Währungsunion auch weiterhin, obwohl derzeit – vor allem wegen der unkonventionellen und höchst umstrittenen Geldpolitik der EZB – eine trügerische Ruhe herrscht. Diese Phase könnte und sollte jedoch genutzt werden, um auch außerhalb des 1992 beschlossenen Rahmens einer unflexiblen und nur durch Zwang zu stabilisierenden Währungsunion nach flexibleren und dauerhaft stabilen Lösungen zu suchen. Angesichts ihres politischen und ökonomischen Gewichts läge es an der deutschen Politik, dafür die Initiative zu ergreifen.

Und in der Tat hat Finanzminister Wolfgang Schäuble auf dem Tiefpunkt des vorletzten Griechenland-Konflikts eine Option ins Spiel gebracht, die zu einer besseren Lösung führen könnte. Allerdings stieß seine Anregung, Griechenland könnte ja (zeitweilig) den Euro verlassen, auf so vehemente Kritik, dass die in seinem non paper (einem internen informellen Papier) vom 10. Juli 2015 formulierten Konditionen gar nicht mehr diskutiert wurden. Sie lauteten:


“The time-out solution should be accompanied by supporting Greece as an EU member and the Greek people with growth enhancing, humanitarian and technical assistance over the next years.”


Angeboten wurde also die Sicherheit der EU-Mitgliedschaft und der weiteren Teilhabe an allen EU-Programmen sowie mehrjährige wirtschaftliche, humanitäre und technische Hilfen beim Übergang zu einer eigenen Währung (die, wie wir jetzt wissen, von Yanis Varoufakis schon vorbereitet war1). Die Tsipras-Regierung ist darauf nicht eingegangen – weil sie an der politischen Belastbarkeit des deutschen Angebots zweifelte und weil ihr eine isolierte, von Europa getrennte Zukunft des Landes noch schrecklicher erschien als die Kapitulation vor den noch einmal verschärften Auflagen der Gläubiger.

Was Schäuble damals tatsächlich nicht bieten konnte, waren gültige Regeln für den einvernehmlichen Austritt und eine klare Perspektive für die künftigen Beziehungen zwischen dem Austrittsland und dem Euro. Aber diese Vorbedingungen könnten geschaffen werden. Die institutionellen Bausteine für einen flexiblen, zweistufigen „Europäischen Währungsverbund“ existieren bereits in der Kombination der bisherigen Währungsunion mit dem europäischen „Wechselkursmechanismus II“ (WKM II).

Der WKM II ist der Nachfolger des 1979 von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing geschaffenen Europäischen Währungssystems (EWS). Dieses hatte die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, mit den Mitteln der nationalen Geld- und Finanzpolitik die jeweils vereinbarten Wechselkurse einzuhalten und sich dabei durch Interventionen auf den Devisenmärkten gegenseitig zu unterstützen. Bei dauerhaften Ungleichgewichten allerdings konnte eine Anpassung der Wechselkurse vereinbart werden. Nach 1999 gehörten dem WKM II noch einige Länder an, die sich auf die Vollmitgliedschaft in der Währungsunion vorbereiteten. Im Moment ist jedoch Dänemark, das nicht beitreten will, das einzige Mitglied.

Diese zweistufige Struktur könnte aber reaktiviert werden für Griechenland und andere Länder, die eine Koppelung ihrer Währung an den Euro und den Schutz des Verbundes gegen Schwankungen und spekulative Attacken auf den Devisenmärkten anstreben, aber die strikten Anforderungen einer Währungsunion nicht erfüllen können oder wollen.

In dem zweistufigen Währungsverbund würden der engeren Währungsunion neben den Ländern des früheren „DM-Blocks“ wohl auch die baltischen Mitgliedstaaten angehören. Hinzu kämen vielleicht auch Irland und andere Länder, die aus ökonomischen oder politischen Gründen strukturelle Konvergenz mit Deutschland anstreben und bereit wären, dafür stärkere Koordination und stärkere Kontrollen in Kauf zu nehmen. Für Frankreich wäre dies jedoch eine schwierige Entscheidung. Die Mitgliedschaft im WKM II könnte dagegen strukturell sehr heterogen sein. Neben den typischen Süd-Ländern könnten dazu auch Länder mit einer exportorientierten und preisstabilen Wirtschaft wie Dänemark oder Schweden gehören, die der Währungsunion nicht wegen wirtschaftsstruktureller Divergenz fernbleiben, sondern weil sie die Autonomie einer demokratisch verantworteten Wirtschaftspolitik nicht aufgeben wollen.

Alle Mitgliedstaaten im WKM II wären verpflichtet, einen vereinbarten Wechselkurs zum Euro einzuhalten – was manchen leicht, anderen schwer fallen könnte. Aber dieser Wechselkurs entspräche der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft. Für seine Verteidigung stünden dem Staat auch alle Instrumente einer auf die jeweilige Lage dieser Wirtschaft abgestimmten nationalen Geld-, Finanz-, Lohn- und Kreditpolitik zur Verfügung. Käme es trotz fester Kurse zu temporären Ungleichgewichten oder spekulativen Attacken auf eine der Währungen, stünde für stabilisierende Interventionen auf den Devisenmärkten die fast unbegrenzte fire power der Europäischen Zentralbank zur Verfügung. Bei temporären Engpässen der Staatsfinanzen könnte der derzeit diskutierte Europäische Währungsfonds Liquiditätshilfen anbieten. Bei drohender Staatsinsolvenz dagegen müsste ein geregeltes Verfahren die Umschuldung ermöglichen. Dauerhafte Defizite oder Überschüsse der Leistungsbilanzen könnten und sollten dann durch die vereinbarte Anpassung der Wechselkurse korrigiert werden.

Die Euro-Länder im Kern der Währungsunion könnten sich danach wirtschafts- und finanzpolitisch enger integrieren und von der endlich funktionierenden Steuerungskompetenz einer einheitlichen Geldpolitik und antizyklischer fiskalischer Kapazitäten profitieren. Die bisherigen Süd-Länder dagegen wären im WKM II nicht länger gezwungen, die Konvergenz mit der exportorientierten Wirtschaftsstruktur Deutschlands zu erreichen. Sie müssten lediglich ihre Importe mit den eigenen Exporten bezahlen können – was im Prinzip mit einem auf Oliven, Logistik und Tourismus spezialisierten Exportsektor ebenso möglich wäre wie mit der Spezialisierung auf Werkzeugmaschinen und Autos. Zugleich wären sie aber durch den Verbund vor der Gefahr unkontrollierbarer Abwertungs-Inflations-Abwertungs-Zyklen und vor den Attacken der Währungsspekulation geschützt – Vorteile, die auch andere Länder, die heute nicht der Eurozone angehören – wie etwa Schweden oder Polen oder vielleicht sogar Norwegen und die Schweiz – zum Beitritt bewegen könnten. Das Gewicht dieses Europäischen Währungsverbundes auf den weltweiten Finanzmärkten und in internationalen Finanzverhandlungen könnte dann sogar größer sein als das der heutigen Eurozone.

Den größten Vorteil eines flexiblen Währungsverbundes aber hätte die europäische Politik. Sie wäre nicht länger durch den Nord-Süd-Konflikt gelähmt und auch Deutschland wäre nicht länger der europäische Zuchtmeister, der eine autoritäre Politik durchsetzen muss, die anscheinend nur dem eigenen Interesse dient. Vom Zwangsregime der gegenwärtigen Währungsunion befreit, könnte die europäische Politik dann endlich bei der Bewältigung der Krisen und Aufgaben vorankommen, bei denen gemeinsame Interessen gemeinsames Handeln erfordern.

Vorerst freilich ginge es gar nicht darum, in einem neuen Maastricht-Vertrag die Gründung eines zweistufigen „Europäischen Währungsverbundes“ zu beschließen – mit festen Fristen, Kriterien der Mitgliedschaft und möglichst auch schon der Zuordnung der Länder zu der einen oder der anderen Formation. Stattdessen käme es darauf an, in der gegenwärtig ruhigen Phase eine institutionelle Gelegenheitsstruktur zu schaffen, die in künftigen Krisen genutzt werden kann. Als Minimum müsste sie Regeln vorsehen für den Austritt aus der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU), die Aufnahme in einen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) II und für die damit verbundenen wechselseitigen Pflichten und Verfahren zur Stabilisierung und Änderung der Wechselkurse. Nötig wären außerdem geregelte Verfahren bei Staatsinsolvenz und beim Übergang vom Euro zu einer nationalen Währung. Diese minimale institutionelle Infrastruktur eines zweistufigen Währungsverbundes könnte gewiss nicht unter dem Druck einer akuten Eurokrise geschaffen werden. Ob und wie sie im konkreten Fall genutzt und weiterentwickelt würde, könnte der künftigen Entwicklung überlassen werden. Wäre sie aber vorhanden, so wäre die wirtschaftliche und politische Zukunft der Europäischen Union weniger unsicher als sie es heute ist.

Anmerkung:

1James K. Galbraith 2016, Welcome to the Poisoned Chalice: The Destruction of Greece and the Future of Europe. New Haven: Yale University Press.



Für das Portal für Politikwissenschaft leicht überarbeitete Fassung des Beitrags:
Fritz W. Scharpf: Südeuro. Zur Lösung der europäischen Finanzkrise braucht es zwei verschiedene Eurozonen, IPG, 04.12.2017.

 

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Literatur

Fritz W. Scharpf
Towards a more democratic Europe: De-constitutionalization and Majority Rule
in:ZSE Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, Jahrgang 15 (2017), Heft 1, S. 84-118

 

Fritz W. Scharpf
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