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Der lange Weg einer Zivilgesellschaft. Über die Vergangenheit der polnischen Gegenwart

27.10.2017
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Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin

Demonstration gegen das Vorhaben der PiS-Regierung, die Justiz zu entmachten, Warschau, 24. Juli 2017 Foto: Robert Pastryk (Pixabay)Demonstration gegen das Vorhaben der PiS-Regierung, die Justiz zu entmachten, Warschau, 24. Juli 2017 Foto: Robert Pastryk (Pixabay)

 

Die polnische Zivilgesellschaft kann auf eine Entwicklung zurückblicken, die deutlich in die sozialistische Zeit zurückreicht – ist aber dennoch bis in die Gegenwart hinein schwach geblieben. Dies mag ein Grund dafür sein, warum es der Politik des rechten Spektrums immer noch gelingt, das polnische Selbstverständnis unter Rückgriff auf die Vergangenheit zu definieren, Stichworte sind unter anderem die NS-Besatzungszeit und das Massaker von Katyń. An das Gedenken an Letzteres schließt sich inzwischen der Flugzeugabsturz von Smolensk an, bei dem der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński umgekommen ist.

Die hier in Kurzrezensionen gezeigten Bücher bieten in der Zusammenschau insgesamt einen Längsschnitt durch die Geschichte Polens und seiner Gesellschaft, der weniger durch Zäsuren charakterisiert ist als durch längere historische Übergänge – trotz Krieg, trotz Systemumbruch. Jan T. Gross erzählt von einem Antisemitismus, der keineswegs nur den deutschen NS-Besatzern geschuldet war (Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne und Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen) und nicht zum polnischen Selbstverständnis als Opfer und zugleich Helden der Geschichte passt. Nach 1945 zeigt sich aber auch eine Gesellschaft, die sich letztlich dem Sozialismus verweigerte – sowohl im Alltag (Jerzy Kochanowski, Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944-1989) als auch in der Politik: Die Gründung der Solidarność, der Runde Tisch und schließlich der friedliche Systemwechsel waren für Ostmitteleuropa richtungsweisend. Die Erfüllung des zivilgesellschaftlichen Anspruchs, Fundament und Korrektiv der Politik zu sein, steht allerdings noch aus, wie die beiden Polen-Jahrbücher mit den Schwerpunkten Regionen und Umwelt zeigen. Einen Überblick bietet Włodzimierz Borodziej mit der Geschichte Polens im 20. Jahrhundert.


Agnes Arndt

Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976)

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 209); 288 S.; 54,99 €; ISBN 978-3-525-37032-2
Geschichtswiss. Diss. FU Berlin; Begutachtung: J. Kocka, P. Nolte. – In Polen sei eine neue bürokratische Klasse entstanden, die zum eigenen Selbsterhalt die Arbeiter ausbeute, schrieben die Historiker Jacek Kuron und Karol Modzelewski 1964 in einem offenen Brief – und wurden für diese massive Infragestellung von „marxistisch‑leninistischen Begründungszusammenhängen“ (133) unter dem Vorwurf der Verbreitung falscher Informationen inhaftiert. Nichtsdestotrotz sprach auch der Philosoph...weiterlesen


Aurica Bloom

Die Zivilgesellschaft Polens. Zwischen Aufbruch und Stagnation

Berlin: Lit 2013 (Region – Nation – Europa 63); 173 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-643-10656-8
Magisterarbeit Potsdam; Betreuung: H. Kleger, I. P. Karolewski. – Zivilgesellschaften werden gemeinhin als elementarer Bestandteil westlicher Demokratien gesehen und damit auch als unauflösbar an diese geknüpft. Aurica Bloom aber gelingt es, das für diese Annahme aussagekräftige Drei‑Phasen‑Modell von Lauth und Merkel mit Blick auf den ganz eigenen Entwicklungspfad Polens zu modifizieren. Denn anders, als es das Modell vorsieht, hat in Polen die Herausbildung der Zivilgesellsch...weiterlesen


Włodzimierz Borodziej

Geschichte Polens im 20. Jahrhundert

München: C. H. Beck 2010 (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert); 489 S.; hardc., 39,95 €; ISBN 978-3-406-60647-2
Es gibt leichtere Themen für voluminöse Monografien als die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Borodziej, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau, nimmt sich ein ausgewiesener Kenner dieser schwierigen Materie an. Das Problem einer Gesamtdarstellung der Geschichte Polens im 20. Jahrhundert liegt sowohl in einer zugleich präzisen wie nachvollziehbaren Schilderung der Ereignisse als auch und vor allem in den besonderen Anforderungen an die Urteilskraft des Historikers....weiterlesen


Deutsches Polen-Institut Darmstadt (Hrsg.)

Jahrbuch Polen 2015. Umwelt

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015; 213 S.; 11,90 €; ISBN 978-3-447-10342-8
Es ist der unverstellte Blick auf sich selbst, auf die eigene Gesellschaft und Politik, der diese Reihe seit vielen Jahren zu einem Medium macht, über das sich Polen kennenlernen lässt. Redaktionell betreut von Andrzej Kaluza und Jutta Wierczimok, kommen auch in diesem Band über die „Umwelt“ wieder überwiegend polnische Autorinnen und Autoren zu Wort, ergänzt durch einige Beobachtungen von außen, aus deutscher Sicht. Die bewährte thematische Mischung aus grundsätzlichen Betrachtungen und einzelnen Phänomenen lässt ...weiterlesen


Deutsches Polen-Institut Darmstadt (Hrsg.)

Jahrbuch Polen 2012. Regionen

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2012; 185 S.; 11,80 €; ISBN 978-3-447-06649-5
Ein wenig aus der Zeit gefallen wirken die Menschen und Dörfer, die Katarzyna und Jacenty Dędek auf ihrer Reise durch Polen 2011 für diesen Band fotografiert haben (siehe auch http://www.portretprowincji.pl/) – aber vielleicht vergeht die Zeit in der Provinz auch einfach nur langsamer und viele der von den beiden Reportern Befragten scheinen damit ganz zufrieden zu sein. Dass sich in den vergangenen Jahren in den polnischen Regionen dennoch einiges verändert hat, ist in diesem Jahrbuc...weiterlesen


Jan Tomasz Gross

Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. Mit einem Vorwort von Adam Michnik. Aus dem Englischen von Friedrich Griese

München: C. H. Beck 2001; 196 S.; geb., 18,50 €; ISBN 3-406-48233-3
Gross hat mit seiner im Mai 2000 in einer polnischen Ausgabe erschienenen Untersuchung zu den Umständen des Mordes an der jüdischen Bevölkerung in der heute ostpolnischen Stadt Jedwabne eine große öffentliche Resonanz gefunden und zugleich eine beispiellose intellektuelle Debatte in der polnischen Nachkriegsgeschichte ausgelöst. Am 10. Juli 1941 beteiligten sich zahlreiche Bewohner Jedwabnes an dem Massaker ihrer jüdischen Nachbarn, dem insgesamt 1600 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. ...weiterlesen


Jan T. Gross

Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese, unter Mitarbeit von Ulrich Heiße

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012; 454 S.; 26,95 €; ISBN 978-3-518-42303-5
Der Krieg war vorbei, aber die Juden in Polen erleben „‚die Fortsetzung der Besatzung’“ (150) – sie wurden um ihr Eigentum gebracht, geschlagen, aus Zügen gestoßen, ermordet. Der Pogrom von Kielce am 4. Juli 1945, bei dem Polen jüdische Mitbürger, unter ihnen Holocaust-Überlebende, umbrachten, ist dabei ein besonders erschreckendes Ereignis. Jan T. Gross, der aus Polen stammt und an der Princeton University Geschichte lehrt, geht diesen antisemitischen Übergriffen a...weiterlesen


Natalia Hankel

Rechtsextremer Osten? Zur Lage in Russland, der Ukraine und Polen

Marburg: Tectum Verlag 2011; 157 S.; pb., 24,90 €; ISBN 978-3-8288-2696-0
Masterarbeit Deutsche Hochschule der Polizei Münster; Begutachtung: J. Kersten. – Im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2012 wird in den Medien vielfach auf den Rechtsextremismus in den Gastgeberländern Polen und Ukraine hingewiesen. Diese Problematik greift Hankel auf und fragt, inwiefern sich die rechtsextremen Szenen in Russland, der Ukraine sowie in Polen untereinander sowie mit der in Deutschland vergleichen lassen. In länderspezifischen Kapiteln analysiert sie unter anderem die ...weiterlesen


Jerzy Kochanowski

Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944-1989. Aus dem Polnischen übersetzt von Pierre-Frédéric Weber

Göttingen: Wallstein Verlag 2013 (Moderne europäische Geschichte 7); 475 S.; geb., 42,- €; ISBN 978-3-8353-1307-1
Den „Versuchen der polnischen Gesellschaft der Nachkriegszeit, die ‚sozialistische Wüste‘ sowohl zu bewässern als auch möglichst hohe Erträge aus ihr herauszupressen“ (9), widmet sich Jerzy Kochanowski, Professor am Historischen Institut der Universität Warschau, mit der Nachsicht eines Zeitzeugen. „Mit Sicherheit war es schwer, die Zeit des real existierenden Sozialismus zu überdauern, ohne an irgendwelchen Transaktionen auf dem Schwarzmarkt teilzuhaben.“ (30)...weiterlesen


Dariusz Łapiński

Das Weltbild und die Wirtschaftsauffassung des polnischen Rechtspopulismus

Berlin: Weißensee Verlag 2004; 253 S.; 32,- €; ISBN 3-89998-052-2
Diss. Frankfurt (Oder); Gutachter: D. Aleksandrowicz, D. Pollack. – Im Sommer 2000 sprach sich die Bevölkerung Polens in einer Volksabstimmung für eine Privatisierung des gesamten Staatseigentums aus, das anschließend in Form von Gutscheinen an die Bürger verteilt werden sollte. Die Umsetzung dieses Referendums wurde durch ein Veto des damaligen Präsidenten verhindert. Im Vorfeld hatte sich eine hitzige und stark ideologisch geprägte öffentliche Debatte über diese so genannte „Eigent...weiterlesen


Florian Peters

Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen

Berlin: Ch. Links Verlag 2016 (Kommunismus und Gesellschaft 2); 514 S.; brosch., 50,- €; ISBN 978-3-86153-891-2
Diss. HU Berlin; Begutachtung: M. Sabrow. – Nicht erst die aktuelle polnische Regierung hat die Geschichte als wichtige politische Ressource für sich entdeckt. Schon zu Zeiten der Volksrepublik bildeten historische Bezüge sowohl auf Seiten der kommunistischen Machthaber als auch bei oppositionellen Bewegungen wichtige Anknüpfungspunkte für die jeweilige Deutung der Gegenwart. Besonders Ereignisse, die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhingen – wie der ...weiterlesen


Agnieszka Zagańczyk-Neufeld

Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976-1997

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014; 454 S.; 44,90 €; ISBN 978-3-506-76619-9
Geschichtswiss. Diss. Bochum; Begutachtung: S. Plaggenborg, W. Borodziej. – Schon seit Längerem bilden konflikttheoretische Ansätze – vor allem die Arbeiten von Chantal Mouffe – einen beliebten Anknüpfungspunkt in der Demokratietheorie. Agnieszka Zagańczyk‑Neufeld unternimmt den lohnenswerten Versuch, Mouffes Denken auf die geschichtswissenschaftliche Forschung anzuwenden. Dabei arbeitet die Autorin mit den Mitteln der Diskursanalyse, was vor dem Hintergrund des Themas überzeugt. Sie untersucht die Geschichte ...weiterlesen


Marcin Zaremba

Die große Angst. Polen 1944-1947. Leben im Ausnahmezustand. Übersetzt von Sandra Ewers

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016; 629 S.; 49,90 €; ISBN 978-3-506-78093-5
Die (historische) Emotionsforschung als kulturwissenschaftlich motivierter Zugriff auf Geschichte und Politik hat in den vergangenen Jahren einen starken Aufschwung erlebt (siehe etwa Buch‑Nr. 38386 und 47110). Der Warschauer Historiker und Soziologe Marcin Zaremba wählt diesen Ansatz, um ein Deutungsangebot der polnischen Geschichte in der Zeit zwischen dem Einmarsch der Roten Armee in der zweiten Jahreshälfte 1944 und den Parlamentswahlen im Januar 1947 vorzulegen. Ausgehend vom Grundgefühl der „Angst“ (der Titel des vieldiskutierten und mehrfach ...weiterlesen

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Weitere Literatur

Hubert Leschnik
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Polen von 1998 bis 2010
Marburg, Herder-Institut 2018 (Studien zur Ostmitteleuropaforschung)

 

Stefanie Peter
Undercover Nation – Die geheime Geschichte Polens
Berlin, Suhrkamp Verlag

 

Krzysztof Pilawski / Holger Politt
Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken
Hamburg, VSA 2016

 

Andreas Rostek (Hrsg.)
POLSKA first. Über die polnische Krise
Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2018 (Schriftenreihe 10254)

 

Fabian Winker
Rechtspopulistische Regierungsparteien in Ungarn und Polen. Gefahr oder Revitalisierung der Demokratie?
München, GRIN Verlag 2016

 


Rezension

Klaus Bachmann

Der Bruch. Ursachen und Konsequenzen des Umsturzes der Verfassungsordnung Polens 2015-2016

Frankfurt a. M. 2016, Peter Lang Verlag 2016 (Studies in Political Transition 6)

Der Wahlerfolg von PiS sei mit einem politisch wirksamen Gegensatz von Zentrum und Peripherie zu erklären, schreibt Klaus Bachmann, der sich in einem Konflikt zwischen denjenigen, die postmaterialistisch und emanzipatorisch denken, und anderen, die materialistischen Traditionen anhängen, manifestiere. Die PiS-Partei habe sich erfolgreich gegen Wertewandel und mit Fremdenfeindlichkeit positioniert, aber erst durch das Wahlsystem die absolute Mehrheit erlangt. Damit sei sie nicht zu dem Verfassungsbruch legitimiert, durch den Polens Rechtsstaatlichkeit und Demokratie jetzt akut gefährdet seien.
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