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Daniela Gottschlich: Kommende Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive

04.10.2017
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Baden-Baden, Nomos 2017 (Feminist and Critical Economy 4)

Der Begriff der Nachhaltigkeit ist zu einem der wichtigsten politischen Leitworte unserer Zeit geworden. So berufen sich sowohl Politik und Regierung als auch wirtschaftliche Akteure und kritische zivilgesellschaftliche Gruppen auf dieses Prinzip der bedarfs- und regenerationsorientierten Form des Wirtschaftens. Heute steht der Begriff der Nachhaltigkeit – insbesondere seit dem Brundtland-Bericht „Our Common Future“ von 1987 – im Zentrum der internationalen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung über eine zukunftsorientierte, ökologische und ressourcenorientierte Form des Wirtschaftens und Zusammenlebens. Dabei spielen neben ökonomischen Aspekten auch gerechtigkeitstheoretische Erwägungen eine Rolle.

Seit seiner erstmaligen Erwähnung durch Carl von Carlowitz als forstwissenschaftliches Prinzip im Jahre 1713 hat der Begriff der Nachhaltigkeit eine beachtliche Karriere gemacht und sich zu einem kaum zu überblickenden Diskursfeld ausgeweitet. Doch wie lässt er sich inhaltlich, normativ und praktisch bestimmen, wenn auf der einen Seite Regierungen und Unternehmen diesen Begriff verwenden, um einen reformistischen, am Erhalt des ökonomischen Status quo orientierten Ansatz durchzusetzen – Stichworte wie Greenwashing oder Corporate Social Responsibility lassen sich hier nennen –, während sich auf der anderen Seite zivilgesellschaftliche Gruppen im Rahmen ihres Anliegens einer gesamtgesellschaftlichen sozio-ökonomischen Transformation – Stichworte: Postwachstum und Degrowth – ebenfalls auf den Begriff der Nachhaltigkeit beziehen? Droht diese damit nicht zu einer beliebigen Leerformel zu verkommen?

Genau diese Interpretation lehnt die Sozialwissenschaftlerin Daniela Gottschlich entschieden ab. Denn sie geht davon aus, dass der Begriff der Nachhaltigkeit – trotz seiner komplexen inhaltlichen Ausdifferenzierung – ein kritisch-emanzipatorisches Potenzial bietet, das sie im Rahmen ihrer Untersuchung „Kommende Nachhaltigkeit – Nachhaltige Entwicklung aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive“ herausarbeitet.

Die Autorin stellt in ihrer Dissertation, die an den Universitäten Osnabrück und Lüneburg entstanden ist, die Frage in den Mittelpunkt, was Nachhaltigkeit aus kritisch-emanzipatorischer Perspektive überhaupt heißen kann. Dabei vertritt sie die These, „dass in den verschiedenen Strängen des Nachhaltigkeitsdiskurses – aller berechtigter Kritik und aller neoliberaler Ausdeutung der Termini im Kampf um die hegemoniale Besetzung des Diskurses zum Trotz – ein emanzipatorisches Potential steckt, das [...] mithilfe eines feministisch geprägten, diskursanalytischen Ansatzes herausgearbeitet werde[n kann]“ (22).

Unter Berufung auf Michel Foucaults Theorie der Diskursanalyse folgt Gottschlich dem Ansatz, „dass ein Neu- und Weiterdenken von Nachhaltigkeit ein Verständnis von Nachhaltigkeit als Diskurs braucht“ (23). Ausgehend von dem Verständnis, dass in einem Diskurs Machtverhältnisse wirksam werden und sich als solche diskursiv reproduzieren und verändern, versucht sie, Nachhaltigkeit neu zu denken: Das „erfordert – neben Nachhaltigkeit als Diskurs zu begreifen und die Prämissen der jeweiligen Nachhaltigkeitsverständnisse transparent zu machen – als dritten Punkt auch, die verschiedenen (kritischen) Diskursstränge zueinander in Verbindung zu setzen und nach gemeinsamen theoretischen wie methodischen Elementen für nachhaltige Forschungen, Strategien und Politiken zu suchen“ (41).

Gottschlich identifiziert dabei vier wesentliche Diskursstränge: Nachhaltigkeit als politisch-institutioneller Diskurs (politische Programme), Diskursinterventionen (skeptische Stimmen im deutschsprachigen Diskurs), Nachhaltigkeit und Gender (feministische Kritiken und Alternativen) und integrative Nachhaltigkeitsansätze (jenseits einfacher ökologischer Modernisierung). Die diesen Diskurssträngen jeweils zugeordneten Dokumente unterzieht sie einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse entlang der Kriterien Genese, Ökonomie-, Politik- und Gerechtigkeitsverständnis.

Die tiefgreifende Analyse der Autorin macht deutlich, dass im Diskurs der Nachhaltigkeit Spuren und Elemente eines emanzipatorischen beziehungsweise transformativen Verständnisses nach wie vor vorhanden sind, die sie insbesondere über die Perspektive der feministischen Ökonomie identifizieren kann. Durch ihre gezielte Zusammenführung dieser Diskurselemente gelingt ihr das argumentative Aufzeigen eines Verständnisses, das sie, in Anlehnung an Jacques Derridas Kommende Demokratie, als kommende Nachhaltigkeit bezeichnet. Es finden sich Elemente wie zum Beispiel die Betonung der wesentlichen Relevanz der Care-Ökonomie für ein nachhaltiges Wirtschaften, die noch durchzuführende Verbindung zwischen Nachhaltigkeit und materiellen Menschenrechten sowie Elemente einer partizipativen, basisdemokratischen Vorstellung von Politik, die gemeinsam in der Notwendigkeit einer Neuordnung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gründen.

Obwohl diese Elemente bereits bekannt und ihre Bedeutung für eine zukunftsfähige Neuordnung der Gesellschaft wissenschaftlich breit rezipiert werden, ist es ein Verdienst der Autorin, sie im Nachhaltigkeitsdiskurs identifiziert und ihrerseits zu einem emanzipatorischen Diskursstrang verbunden zu haben. Somit wird Nachhaltigkeitsforschung auch zu einer zeitgenössischen Form kritischer Theorie: „Nachhaltigkeitsforschung als kritische Theorie muss es sowohl als ihre Aufgabe ansehen, gesellschaftliche Missstände anzuprangern als auch die Ursachen von sozialen und ökologischen Krisenphänomenen zu reflektieren, um überhaupt Vorschläge für Lösungen erarbeiten zu können“ (465).

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

 

Marius Christen

Die Idee der Nachhaltigkeit. Eine werttheoretische Fundierung

Marburg: Metropolis-Verlag 2013 (Beiträge zur Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit 5); 295 S.; 34,80 €; ISBN 978-3-7316-1034-2
Diss. Basel; Begutachtung: P. Burger, L. H. Meyer. – Der Begriff der Nachhaltigkeit ist in aller Munde, allerdings wird er oft missbräuchlich verwendet, wie Marius Christen feststellt. Philosophisch sei der Begriff bisher kaum durchdrungen oder fundiert. Deshalb untersucht er die „normativen und evaluativen Grundlagen von Nachhaltigkeit“ (17) – also die theoretischen Voraussetzungen, unter denen die Ziele nachhaltiger Entwicklung gerechtfertigt werden können. Christen wid...weiterlesen


Josef Mantl / Alexander Ochs / Marc R. Pacheco (Hrsg.)

Communicating Sustainability. Perspektiven der Nachhaltigkeit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2012; 248 S.; brosch., 39,- €; ISBN 978-3-205-78817-1
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist nicht nur diffus, sondern wird auch inflationär verwendet. Dieser Sammelband stellt einen Beleg dafür dar, dass er mittlerweile in nahezu alle Bereiche Eingang gefunden hat: So wird nach der Nachhaltigkeit in der Ökonomie, Ökologie, Erziehung und Gesellschaft gefragt. Alexander Ochs rechtfertigt dieses weite Verständnis: Es gehe bei dem Konzept um mehr als den Schutz der ökologischen Lebensgrundlage. Nachhaltige Entwicklung könne „den Weg nach vorn weisen...weiterlesen


Felix Ekardt

Theorie der Nachhaltigkeit. Rechtliche, ethische und politische Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2011; 735 S.; 98,- €; ISBN 978-3-8329-6032-2
Rechtswiss. Habilitationsschrift Rostock. – Aufgrund der Endlichkeit von Ressourcen steht die Menschheit vor der Herausforderung, ein Wirtschafts-, Gesellschafts- und Wohlstandsmodell zu entwickeln, das dauerhaft und lebbar ist. Die Herausforderung ist also gewaltig, denn der bisherige Wohlstand wurde nur mithilfe eines nichtnachhaltigen Wirtschaftens errungen. Ekardt will mit seinem Buch, dessen erste Fassung 2003 als Privatdruck erschien, einen interdisziplinären Beitrag zur notwendigen ...weiterlesen



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