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Tom Mannewitz (Hrsg.): Die Demokratie und ihre Defekte. Analysen und Reformvorschläge

15.11.2018
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Autorenprofil
Dr. Sven Leunig
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften

Dass die Demokratie, frei nach Churchill, bekanntlich die schlechteste aller Regierungsformen ist – abgesehen von allen anderen – und demnach fast schon naturgemäß mit allerlei Defekten behaftet sein muss, ist ja geradezu ein Gemeinplatz. Gleichwohl – in Zeiten, in denen die „Volksherrschaft“ nicht zuletzt von neuen Vertretern des „populus“ mehr und mehr unter Beschuss gerät, ist es zweifellos an der Zeit, einmal zu resümieren, wo die Politikwissenschaft diese Defekte eigentlich verortet. Die Kolleg*innen um Tom Mannewitz haben diesen Versuch unternommen und ihren Analysen Reformvorschläge hinzugefügt, wie der Untertitel des Buches verrät.

Nach einem instruktiven Überblick von Klaus von Beyme über Reformversuche in den verschiedensten Feldern der Demokratie erläutert der Herausgeber Ziel und Struktur des Bandes. Sein Ausgangspunkt ist der Umstand, dass es in der Gegenwart zwar eine Vielzahl von Demokratien gibt, aber zunehmend solche, die von der Forschung als „defekte“ oder „unvollkommene“ Ausprägungen jener Herrschaftsform verstanden werden. Die systemimmanenten Schwächen und Fehler, die Demokratien anhaften können (oder müssen?), so Mannewitz weiter, würden aber quasi „hingenommen“ und viel zu selten untersucht, genauer bestimmt und hinterfragt – dies sei das Ziel des Bandes (17 f.). Dessen Struktur entspricht jener dreiteiligen Gesprächsreihe, die im Juni 2017 in Darmstadt unter Beteiligung der Autoren dieses Bandes stattfand. Es beginnt zunächst mit einem sehr grundsätzlichen, im doppelten Wortsinn (auch) ökologischen Problem: dass die Demokratie vermeintlich „nachhaltigkeitsunfähig“ ist, weil sie sich zwangsläufig (man denke an die kurzen Wahlperioden) mit Gegenwartsproblemen befassen muss. Hinzu kommt die Frage, ob die Demokratie nicht von einer ebenfalls eher auf kurze oder mittlere Sicht denkenden Ökonomie daran gehindert wird, nachhaltig zu handeln (Erik Fritzsche / Anselm Vogler). Bernward Gesang schlägt vor, diese Probleme mithilfe von mit Vetomacht ausgestatteten Zukunftsräten anzugehen, die insofern die bestehenden Institutionen des Systems ergänzen sollen. Dies ist eine in der Tat naheliegende Überlegung, die auch von Jörg Tremmel in seinem Aufsatz grundsätzlich geteilt, aber strukturell modifiziert wird.

Der zweite große Abschnitt ist überschrieben mit „Was kann, was soll – Zwischen ungenutzten Potentialen und übersehenen Grenzen demokratischer Leistungsfähigkeit“. Von Hans-Joachim Lauth und Oliver Schlenkrich wird zunächst ein höchst aktuelles Thema aufgegriffen – wie kann, wie muss eine Demokratie auf die Herausforderung der Komplexität reagieren, ein Phänomen, auf das bislang vor allem der Populismus in einer rückwärtsgewandten, verteidigenden Weise eine Antwort geben will. Hier erhält der Leser einen eher klassischen Rat: mehr aktives Streben nach Konsens statt des Versuchs, jedwede Frage über die Konkurrenz alternativer, widerstreitender Ideen lösen zu wollen (164 f.), auch wenn man dann noch mehr den Gefahren des populistischen „einfachen Weges“ widerstehen muss. Nicht ganz überzeugen kann der Beitrag von Susanne Pickel, die ein gängiges Vorurteil – Politiker kümmern sich nur in Wahlkampfzeiten um die Wähler – bestätigt zu finden meint. Dass Erstere dies in jenen Zeiten besonders tun, ist offensichtlich und liegt in der Natur der Sache. Freilich bieten sich Politiker zu allen Zeiten (!) nicht nur über Bürgersprechstunden den Wählern und ihren Problemen an oder besuchen öffentliche Veranstaltungen jedweder Art, deren Nutzen für die Responsivität man nicht unterschätzen sollte. Auch gibt es zumindest auf kommunaler Ebene durchaus Parteien, die sich ganz bewusst während der gesamten Wahlperiode mindestens monatlich den Fragen und Problemen der Bürger an Info-Ständen stellen – mit sehr überschaubarer Resonanz. „Wenn sich die Bürger […] fragen, […] warum niemand fragt, was sie eigentlich erwarten, wünschen, wollen“ (184), dann ist dies vielleicht auch ein Problem ihrer Wahrnehmung, nicht (nur) der Angebotsseite. Werner Patzelt befasst sich ebenfalls mit der Responsivität, die er mit mehr oder weniger neuen Vorschlägen wie einem Elternwahlrecht sowie innerparteilichen und fakultativen Vorwahlen zu erhöhen vorschlägt.

Bleibt schließlich der dritte Abschnitt des Sammelbandes, in dem es, fast ein wenig despektierlich, darum geht, ob nicht ohnehin „jedes Volk die Regierung hat, die es verdient“. Hier, fast anschließend an Patzelt, argumentiert Frank Decker überzeugend gegen eine Stärkung direktdemokratischer Elemente und kann sich allenfalls für obligatorische Verfassungsreferenden auf Bundesebene zu bestimmten Sachfragen erwärmen. Eine durchaus reizvolle Kreativität liegt in jedem Fall im Vorschlag von Danny Michelsen, eine Art von „Volkstribunen“ wie weiland im alten Rom einzuführen, der insbesondere jene materiell ärmeren Bürger vertreten soll, die, wie die Forschung zeigt, üblicherweise nur in geringerem Maße an Politik partizipieren. Eine besonders faszinierende und – wie der Rezensent aus eigener Seminarerfahrung berichten kann – zu intensiver Diskussion einladende Frage stellt schließlich der Herausgeber selbst: Wo liegen die Grenzen dessen, was man in Demokratien an Meinungen tolerieren muss? Diese sieht Mannewitz dort gezogen, „wo grundlegende Diskursregeln verletzt und Handlungen initiiert werden, die den Freiheiten Dritter zuleibe rücken“ (303). Aushalten müsse man demnach auch Überzeugungen wie „Homosexualität ist eine Krankheit“ oder „Schwarze sind weniger intelligent als Weiße“ (295) – diese kann und darf man nur argumentativ bekämpfen, wolle man nicht Gefahr laufen, in der Tocqueville‘schen ‚Tyrannei der Mehrheit‘ zu enden. Alles in allem stellt der Band also eine sehr interessante und reizvolle Tour d’Horizon durch grundsätzliche und aktuelle Probleme der Demokratie dar, ohne sie grundsätzlich für unreformierbar zu halten oder gar abzulehnen – womit sich die Autoren im Übrigen in bester Gesellschaft mit ihren Mitbürgern befinden, die bekanntlich in Umfragen mit übergroßer Mehrheit der Meinung sind, die Demokratie sei eine gute Staatsform – nur an ihrer Umsetzung hapere es …

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