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Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt

29.04.2020
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
München, C. H. Beck 2020

Der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans beginnt sein Buch mit der Feststellung, dass die islamische Welt in ihrer frühen Blütezeit einen Vorspruch vor dem Westen hatte und schließt daran die Frage an, wie es dazu kommen konnte, dass die so erfolgreiche islamische Welt in eine historische Krise geriet. Seine Deutung geht in die richtige Richtung, wenn er konstatiert, dass „Ideologien und soziale Institutionen, die in einem bestimmten weltgeschichtlichen Kontext effizient und vielleicht fortschrittlich waren, dies nur bleiben können, wenn sie auch die Fähigkeit haben, sich an veränderte Bedingungen anzupassen.“ (17) Im Vergleich mit der Sowjetunion, die eine Entwicklungsblockade nach den 1950er-Jahren erlebt hat, sei der zeitgenössische Islam der „Trabant, oder respektvoller gesagt, der Sputnik unter den Weltreligionen.“ (18)

Der Autor zeigt, dass der religiöse Fundamentalismus der Hauptgrund dafür sei, dass die „islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren an fast allen Fronten stagniert hat oder in einigen Fällen sogar in die Barbarei zurückgefallen ist.“ (22) Koopmans stellt einige Studien vor, die das fundamentalistische Denken unter Muslimen und Christen untersuchen. Besonders interessant erscheinen die repräsentativen Umfragen des World Values Survey. Sie legen die Erkenntnis nahe, dass die Unterstützung religiöser Gewalt „unter Muslimen am größten und innerhalb der einzelnen Religionen unter den fundamentalistischen Gläubigen deutlich größer“ (42) ist. Anhand der Daten von Freedom House weist der Autor nach, dass seit 1972 zwar die Anzahl der Demokratien weltweit gestiegen sind, aber „an einem Teil der Welt ist die Welle der Demokratisierung, die in den letzten fünfzig Jahren über die Welt schwappte, völlig vorbeigegangen.“ (62) Im Jahr 2018 gab es nur zwei demokratische Länder mit einer islamischen Bevölkerungsmehrheit: Senegal und Tunesien. Diese beiden islamischen Demokratien haben die längste Geschichte der Kolonialisierung hinter sich, und, so die These, es existieren keine Anzeichen dafür, dass sich der westliche Kolonialismus negativ auf die Demokratisierung ausgewirkt habe. „Im Gegenteil, je länger der westliche Kolonialismus gedauert hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Land heute ganz oder, wie Indonesien und Malaysia, teilweise demokratisch ist.“ (77) Islamische Länder seien sehr wenig vom westlichen Kolonialismus beeinflusst worden. Insbesondere werde die Zeit der osmanischen Herrschaft meist nicht erwähnt, dabei bestreitet Koopmans nicht, dass der Kolonialismus nach heutigen Maßstäben verwerflich war.

Der Autor relativiert die These von der Islamophobie und korrigiert, dass in keinem Teil der Welt die „religiöse Diskriminierung religiöser Minderheiten und Gewalt gegen sie so hart und so weit verbreitet sind wie in der islamischen Welt.“ (91) Die Diskriminierung richte sich auch gegen liberale Muslime.

Darüber hinaus sind Frauen Opfer religiös begründeter Unterdrückung und Koopmans spricht zu Recht von einer islamischen Apartheid gegenüber Frauen. Zwar sei allein die Tatsache, dass die Aussage einer Frau im Schariarecht überhaupt zähle, sie überhaupt ein Erbe bekomme und dass ein Mann „nur“ vier Frauen haben dürfe, für das Mekka und Medina des siebten Jahrhunderts „vielleicht nicht so schlecht“ (101) gewesen. Für die heutigen Verhältnisse jedoch lasse sich die Diskriminierung der Frauen in den meisten islamischen Staaten mit der Behandlung der Schwarzen im südafrikanischen Apartheidsregime vergleichen Die Frauen müssten ihren Körper verhüllen, „anscheinend ist es nicht Aufgabe der Männer, ihre Triebe zu kontrollieren.“ (102) Der Wissenschaftler kritisiert auch das Verhalten der westlichen Regierungen und Intellektuellen. Während Südafrika tatsächlich boykottiert wurde, werde beispielsweise der Iran oder Pakistan nicht geächtet. Lieber werde Israel angegriffen. Progressive westliche Wissenschaftler würden im Iran Urlaub machen, wo Homosexuelle aufgehängt würden. Wer „dieses Unrecht kritisiert, kann damit rechnen, als Islamophob bezeichnet zu werden.“ (103) Iran gehöre nach dem Social Institutions and Gender Index (SIGI) in der dritten Position zu den vier Ländern, in denen die Position der Frauen am schlechtesten sei. Koopmans schreibt: „Je strenger die Bevölkerung auf die Einhaltung der Scharia beharrt und je weniger Trennung von Staat und Religion es gibt, desto schlechter ist es um die Rechte von Frauen und Minderheiten bestellt.“ (108)

Koopmans setzt sich zudem mit den Analysen von Samuel Huntington im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auseinander. Wie er anhand von empirischen Materialien aufzeigt, ist seit den 1980er-Jahren die Teilnahme von islamischen Staaten und radikalislamischen Gruppen an bewaffneten Kämpfen gestiegen. Vor diesem Hintergrund habe Huntington die umstrittene These von den „blutigen Grenzen des Islam“ (129) vertreten. Diese These sei für die Situation um den Zeitraum der Mitte der Neunzigerjahre durchaus „etwas überzogen“ (130), als Prognose habe sie gleichwohl den Finger auf die Wunde gelegt. Innerhalb der islamischen Welt gebe es mindestens so viele Konflikte wie zwischen dem Islam und anderen Kulturkreisen: „Seit 2005 ist die terroristische Gewalt in der islamischen Welt eskaliert.“ (135) Die Zahl der Gewaltakte und Opfer sei indessen in islamischen Ländern mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Welt zusammen. Trotz der überwältigenden Belege, dass islamische Extremisten für die meisten terroristischen Gewaltakte verantwortlich seien, würden Politiker, Journalisten und Kommentatoren immer wieder behaupten, dass Terrorismus „nichts mit dem Islam zu tun“ (138) habe, kritisiert der Autor.

Kernländer der islamischen Welt wie der Iran waren nie westliche Kolonien, und gerade der Iran sei neben Saudi-Arabien „das Epizentrum des islamischen Fundamentalismus und die Wiege vieler terroristischer Gruppen“ (149).

Oft führe die Kombination aus “mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven und sexueller Kombination“ (187) dazu, dass sich viele junge Männer in islamischen Ländern den extremistischen Bewegungen annähern.

Im Hinblick auf die Geschichte der Migration aus islamischen Ländern stellt Koopmans fest: „In den Problemen der muslimischen Integration spiegelt sich die Krise der islamischen Welt im Kleinformat.“ (190) Er benennt dabei den virulenten Antisemitismus, die Homophobie und die Unterdrückung von Frauen. Zwar spiele Diskriminierung eine Rolle, aber Analysen verschiedener Studien würden zeigen, dass „fehlende Sprachkenntnisse, auf das Herkunftsland gerichtete Mediennutzung, mangelnde interethnische soziale Kontakte und konservative Auffassungen über Geschlechterrollen die nachteilige Position von Muslimen auf dem Arbeitsmarkt und die hohe Arbeitslosigkeit fast vollständig erklären können“ (207).

Ausdrücklich will der Autor Missverständnisse vermeiden und wiederholt, dass die kritischen Analysen nicht bedeuten, „dass Migranten aus islamischen Ländern im Allgemeinen gewalttätige Judenhasser, Schwulenfeinde und Frauenschänder“ (222) seien. Natürlich seien die meisten von ihnen das zum Glück nicht. Koopmans distanziert sich von Thilo Sarrazin und Geert Wilders. Radikale Islamkritiker seien „ebenso fanatische Koranexegeten geworden wie die Fundamentalisten.“ (226) Doch es sei kontraproduktiv, wenn behauptet wird, dass Fundamentalismus, Unterdrückung und Gewalt mit dem Islam nichts zu tun haben. Insgesamt positioniert Koopmans sich als einen Universalisten, für den es „keine moralisch vertretbare Option sei“ (125), zu akzeptieren, dass Muslime nun mal anders über Geschlechterstellung oder Religionsfreiheit denken.

Koopmans geht davon aus, dass die Lösung der Konflikte „in der Mitte der islamischen Gemeinschaft selbst liegt, in Form einer weit verbreiteten intoleranten Glaubensauffassung, die mit Hass und Gewalt gegen Andersgläubige einhergeht (243). In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die wichtigsten deutschen Islamverbände, deren Arbeit nicht zu einer liberalen und weltoffenen Demokratie passten. Die eigentliche Frage sei, welcher Islam zu einer liberalen Demokratie gehört.

Auf jeden Fall verdienten die „totalitären, zutiefst menschenfeindlichen Ideologien“ (249) nicht den Schutz der Glaubensfreiheit: „Muslime, die für einen anderen, modernen und liberalen Islam eintreten, müssen sich massenhaft gegen die globale Intoleranz und Gewalt im Namen ihres Glaubens erheben.“ (254)

Das Buch ist nachdenklich und spannend geschrieben, es liefert viel positiven Diskussionsstoff.

 

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Rezension

Michael Blume

Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug

Ostfildern, Patmos 2017

Das Erstarken islamistischer Vorstellungen ist für den Religionswissenschaftler Michael Blume Symptom einer schweren Krise des Islam, die er auf eine Fehlentscheidung des osmanischen Sultans im Jahr 1482 zurückführt: Mit dem Verbot des Buchdrucks für arabische Schriftzeichen habe ein Niedergang der islamischen Hochkultur eingesetzt, dessen Folgen bis in die heutige Zeit hineinwirken. Dazu zähle eine massive Bildungskrise, eine verpasste Demokratisierung infolge des Ölbooms und eine fortschreitende Säkularisierung. Der Autor fordert die Muslime zu einem selbstkritischen Blick auf die eigene Geschichte auf, der gewagt und ausgehalten werden müsse.
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Aus der Annotierten Bibliografie

Sineb El Masrar

Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden

Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder 2016 ; 315 S. ; geb., 20,- €; ISBN 978-3-451-34276-9
Sineb El Masrar, die in Deutschland als Tochter zweier Muslime aus Marokko zur Welt gekommen ist, prangert mit diesem Buch die Geschlechtertrennung und Rollenzuweisung im Islam an. Sie verweist dabei auf das weiblich‑islamische Erbe. Dieses sei nach dem Tod des Propheten Mohammed missachtet und von einem Konzept der männlichen Dominanz überlagert worden. Die muslimischen Männer hätten die Deutungshoheit über die islamischen Quellen und den Koran erlangt. Um die eigenen Vorteile und Privilegien in der Gesellschaft zu sichern ...weiterlesen

 

Ariane Sadjed

"Shopping for Freedom" in der Islamischen Republik. Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht

Bielefeld: transcript Verlag 2012 (Kultur und soziale Praxis); 226 S. ; kart., 28,80 €; ISBN 978-3-8376-1982-9
Diss. HU Berlin; Begutachtung: C. von Braun, G. Dietze. – Ist Shopping politisch und wenn ja, bis zu welchem Grad? In einer Zeit, in der aus westlicher Perspektive in jeder Ausdehnung von Märkten ganz grundsätzlich ein die Demokratie unterminierendes Potenzial gesehen wird, untersucht Ariane Sadjed die Frage, inwieweit eine Liberalisierung von Märkten gleichzeitig eine Demokratisierung von überhaupt nicht demokratischen Regimen befördern kann. Mit anderen Worten: Wird ein politisches Syste...weiterlesen

 

Wahied Wahdat-Hagh

Der islamistische Totalitarismus. Über Antisemitismus, Anti-Bahaismus, Christenverfolgung und geschlechterspezifische Apartheid in der "Islamischen Republik Iran"

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2012 (Democracy, Human Rights, Integration, Radicalisation and Security 1); 334 S.; geb., 49,80 €; ISBN 978-3-631-63569-8
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