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Regieren am Fuße einer wirtschaftlichen „Eigernordwand“? Sieben wirtschaftspolitische Herausforderungen für die neue Bundesregierung

29.07.2021
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Prof. em. Dr. Rolf J. Langhammer

Eiger 1Bild: Titus, Lizenz: CC BY-SA 2.0

 

BTW-Schwerpunkt: Aus der Krise

Wirtschaftspolitisch wird die neue Bundesregierung vor schwierigen, aber nicht unlösbaren Aufgaben stehen, befindet Rolf J. Langhammer in seinem Kommentar „Regieren am Fuße einer wirtschaftlichen ,Eigernordwand‘?“. Wenngleich noch viele Entwicklungen im Dunkeln lägen, lassen sich nach Langhammer bereits jetzt sieben zentrale Felder identifizieren, auf denen die neue Regierung wirtschaftspolitisch aktiv werden müsse. Diese reichen vom Abbau des Produktionsstaus über die Einebnung der Chancenungleichheit bis zum Kampf gegen den Klimawandel.  (lz)

Ein Kommentar von Rolf J. Langhammer

1991 wurden die Herausforderungen einer deutsch-deutschen Währungsunion für die deutsche Wirtschaft im Bundestag mit der Durchsteigung der Eigernordwand im Winter verglichen. Dreißig Jahre später sind angesichts der Covid-19-Pandemie derartig dramatisch gezeichnete Bilder nicht angebracht. Vielmehr liegt über vielem der Nebel der Unsicherheit, denn die wirtschaftlichen Herausforderungen für eine neue Bundesregierung zu einer Zeit diskutieren zu wollen, in der noch nicht klar ist, ob der Covid-19-Krisenmodus verlassen und der Beginn der Post-Pandemiezeit verkündet werden kann, ist alles andere als trivial. Der bevorstehende Wechsel in der Kanzlerschaft macht diese Aufgabe nicht leichter. Der Versuch mehr Klarheit zu gewinnen, gleicht dem Betasten eines Elefanten mit verbundenen Augen und einer darauffolgenden Zeichnung: Je nachdem, wo man tastet, sieht der Elefant auf der Zeichnung anders aus. 

Die Zeichner im Sommer 2021 sind die politischen Parteien vor der Bundestagswahl und ihre Malergebnisse bleiben zumeist auf die Umrisse beschränkt. Ausgemalt wird wenig; vielleicht mit Ausnahme der Grünen, die dem Wahlvolk zudem Veränderung als per se Notwendiges und Gutes vermitteln wollen. Die Umrisse lassen sich mit „Passepartout“-Begriffen wie Modernisierung, Bewahrung der Wettbewerbsfähigkeit, der sozialen Stabilität und der Besitzstände sowie mit der Bekämpfung des Klimawandels umreißen. Dem Staat wird dabei auch von den Liberalen eine wichtigere Akteursrolle zugestanden als bei einem üblichen Konjunkturzyklus. Die meisten Parteien bestreiten nicht, dass sich Deutschland im Krisenmodus relativ zu anderen Nationen wirtschaftlich gut gehalten hat. Damit sei Zuversicht nicht als Sedativum, sondern als stabile Basis für Reformen in der Post-Pandemiezeit angebracht. Das Verbreiten von Zuversicht soll auch der Unsicherheit über die künftigen Akteure entgegenwirken, die durch den Abgang von Bundeskanzlerin Angela Merkel unvermeidlich ist. Der/die neue Akteur/in im Kanzleramt wird in tiefe Fußstapfen treten, aber eigene formen müssen, um die folgenden skizzierten sieben zentralen wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. 

  1. Den zyklischen Aufschwung aktiv begleiten

Ungeachtet der Unsicherheiten über weitere Virusmutanten wird mit steigenden Impfzahlen ein zyklischer Aufschwung erwartet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll den verschiedenen Prognosen zufolge um die vier Prozent im Jahr 2021 und um die fünf Prozent im Jahr 2022 steigen. Damit würde im Laufe des Jahres 2021 das Vorkrisenniveau wieder erreicht. Erwartet wird auch, dass die Inflation 2021 erstmalig seit vielen Jahren den Zielkorridor von um die zwei Prozent überschreitet, aber bereits 2022 wieder zu ihm zurückkehren wird. Eine Lohn-Preis-Spirale ist im Sommer 2021 ebenso wenig sichtbar wie eine dauerhaft steigende Inflationsrate. Hinter diesen Aggregatdaten verbergen sich indessen erhebliche Unsicherheiten über die Dauer von Lieferengpässen bei wichtigen Vorprodukten auf der Angebotsseite und über die Verbraucherpräferenzen bezüglich der Auflösung von erzwungenen Ersparnissen sowie der sektoralen Konsummuster auf der Nachfrageseite. Die Prognostiker müssen Annahmen sowohl über das Tempo und das Maß der Auflösung der Ersparnisse als auch über die Rückkehr zu den alten Konsummustern machen und für diese Annahmen sind Präzedenzfälle aus der Vergangenheit nicht verfügbar. Die Pandemiekrise war und ist einmalig. Eine Status-quo-ante-Annahme ist daher plausibel. Ob auf der Angebotsseite Kapazitäts- und Lieferengpässe so schnell abgebaut werden, dass ein paralleler Nachfrageschub in den USA, Europa und China ohne drastische Preisanstiege und damit Realeinkommensverluste befriedigt werden kann, ob Verbraucher dem zentralen Sparmotiv – die Konsumglättung über die Zeit – folgen und damit entsparen oder aus Vorsicht und/oder in Erwartung steigender Zinsen ihr Sparniveau beibehalten und ob Verbraucher zu den gleichen Konsummustern der Vorkrisenzeit wie starker Ferntourismus oder langlebige Konsumgüter zurückkehren, kann nicht als sicher unterstellt werden. Ebenso wenig ist sicher, dass nicht eine Insolvenzwelle droht, sollten die enormen finanziellen Pandemiestützen auslaufen und der Markt nicht-überlebensfähige Produktionen aussondern. Und nicht zuletzt werden Unternehmen, die in der Krise an die Grenzen ihrer Eigenkapitalverfügbarkeit gehen mussten, vielleicht eher versuchen, zunächst die Eigenkapitalbasis zu stärken anstatt das Eigenkapital sofort für die Finanzierung von Investitionen zu verwenden. 

Für eine neue Regierung bedeutet dies, dass die Beobachtung des zyklischen Aufschwungs keinesfalls der Europäischen Zentralbank (EZB) überlassen bleiben kann. Vielmehr steht sie vor der sehr schwierigen Aufgabe, die Pandemiehilfen so strukturiert auslaufen zu lassen, dass dem Markt die Auslesefunktion wieder zurückgegeben wird und gleichzeitig das wahrscheinlich erforderliche Zeitfenster für Hilfen zum Strukturwandel geöffnet bleibt, um eine Insolvenzwelle abzufedern. Der Zeitraum für die Rückführung der Staatsschuldenquote (gemessen am BIP) von derzeit etwa 70 Prozent auf das Maastricht-Ziel von 60 Prozent wird sehr wahrscheinlich länger sein als nach der Wirtschafts-und Finanzkrise von 2008. 

  1. Deutschlands Industriefundament vor einem gut gemeinten Nachhaltigkeitsalleingang schützen

Auch wenn in den zurückliegenden Jahren die binnenwirtschaftlichen Nachfrageimpulse dank hoher Beschäftigung und Lohnzuwächse stärker geworden sind, wird Deutschland in den kommenden Jahren eine Volkswirtschaft bleiben, in der die Außenorientierung innerhalb des EU-Binnenmarktes, aber auch in Richtung der Schwellen- und Entwicklungsländer sowie der beiden wichtigsten Auslandsmärkte China und USA essenziell wichtig für Beschäftigung und Einkommensniveau sein wird. Diese Außenorientierung wird nicht dadurch geschmälert, dass deutsche Exporte zu etwa 40 Prozent aus importierten Vorleistungen bestehen und damit Produktionen in Deutschland häufig am Ende einer langen Wertschöpfungskette stehen. Hier tut sich eine Herausforderung auf, die bereits in der alten Bundesregierung für Konflikte über die Konkretisierung von Nachhaltigkeitszielen gesorgt hat. Eines der letzten Gesetze war das Sorgfaltspflichtengesetz, das auch als Lieferkettengesetz bekannt ist. Es verpflichtet deutsche Unternehmen ab einer bestimmten Beschäftigtenzahl (zunächst 3.000, später 1.000 Beschäftigte) dazu, ihre unmittelbaren Lieferanten auf die Einhaltung internationaler Konventionen zu Menschenrechten, Arbeitnehmerschutz und Umweltverträglichkeit zu kontrollieren und Missstände gegebenenfalls durch Ausschluss des Lieferanten zu beseitigen. Am Ende eines heftigen Konflikts zwischen Wirtschaftsministerium einerseits (gegen scharfe Auflagen) sowie den Ministerien für Arbeit und Entwicklungszusammenarbeit andererseits (für scharfe Auflagen) stand ein Kompromiss, der aus Sicht der Wirtschaftsverbände zwar immer noch zu kontrollaufwändig und ineffektiv war, aber sich doch dem annäherte, was zahlreiche Unternehmen bereits seit etlichen Jahren durch freiwillige Selbstverpflichtungen bei der Kontrolle ihrer Lieferanten praktizieren. Von vielen Regierungen in armen Lieferländern kommt berechtigte Kritik an diesen Gesetzen der Industrieländer. Sie sehen hierin eine Bevormundung und einseitige Eingriffe in ihre eigene Handlungssouveränität und befürchten einen Verdrängungseffekt oder die Spaltung der örtlichen Arbeitsmärkte in kontrollierte und nicht-kontrollierte Bereiche. Aus der Sicht der deutschen Unternehmen aber ist die Sorge vor dem Verlust von Wettbewerbsfähigkeit gegenüber solchen Ländern, denen – wie zum Beispiel China – Arbeitsverhältnisse in Lieferländern egal sind, groß. Ebenso befürchten die großen deutschen Unternehmen, dass Lieferketten in sichere Länder verlagert oder verkürzt werden müssen. Sie verlören damit wichtige Wahlmöglichkeiten. 

Am Horizont taucht für eine neue Regierung nun eine sehr viel schärfere Form eines Sorgfaltspflichtengesetzes in Gestalt einer EU-Richtlinie auf, die alle Unternehmen im Raum der Europäischen Union auf die Kontrolle von Arbeitnehmerrechten für alle Lieferanten sowie für Umweltschutz und Beachtung guter Regierungsführung („good governance“) verpflichten soll. Zwar müsste eine solche Richtlinie erst in nationales Gesetz überführt werden, aber der Konflikt zwischen dem weicheren deutschen Gesetz und einem sehr viel härteren EU-weiten Gesetz ist vorgezeichnet. Der Vorteil einer europaweiten Regelung, die Wettbewerbsungleichheiten zwischen Unternehmen aus verschiedenen EU-Ländern vermeidet, würde durch die Härte der Auflagen einer EU-Regelung zunichte gemacht. Nicht umsonst hat der Handelsausschuss des Europäischen Parlaments in einer Stellungnahme zur geplanten Richtlinie vor zu hohen Belastungen für Unternehmen gerade zum Zeitpunkt des möglichen Endes der Pandemie gewarnt. 

Komplexität und damit hoher bürokratischer Kontrollaufwand könnte neben Handelskonflikten auch ein einseitiges EU-CO2-Grenzausgleichssystem zur Verhinderung der Verlagerung von umweltintensiver Wertschöpfung in Länder mit niedrigeren Preisen für Schadstoffemissionen („carbon leakage“) mit sich bringen. Statt auf eine Reglung zu setzen, die nur die Länder der EU bindet, wäre eine neue Regierung besser beraten, für einen „Klima-Club“ von möglichst vielen Ländern (beispielsweise der G20-Länder) zu werben, in denen die Bepreisung von Schadstoffemissionen einheitlich ist oder zumindest ein gemeinsames Mindestpreisniveau von Emissionen vereinbart wird.

  1. Den Produktivitätsstau auflösen

Seit Jahren wird über Investitionszurückhaltung in Deutschland geklagt. Die Pandemie und die damit verbundene Unsicherheit hat sie weiter verschärft. Investitionen in physisches Kapital sind ein wichtiger Treiber wirtschaftlicher Aktivitäten, aber in reifen Volkswirtschaften wie Deutschland sind sie wegen der abnehmenden Kapitalproduktivität vergleichsweise teurer als in früheren Jahrzehnten, insofern sie heute weniger zusätzliches Wachstum versprechen. Daher ist für Deutschland jener Treiber von Aktivitäten wichtiger, der unabhängig von mehr Arbeit und mehr Kapital wirksam wird: die sogenannte totale Faktorproduktivität. Sie fördert das Wachstum durch die bessere Organisation der bereits bestehenden Arbeitskraft- und Kapitalressourcen. Doch auch sie ist in ihrem Zuwachs in den zurückliegenden Jahren rückläufig gewesen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich diesem Problem in seinem Jahresgutachten 2020/21 vom November 2020 gewidmet und deutliche Schwachstellen bei digitalen privaten, aber vor allem öffentlichen Dienstleistungen und Geschäftsmodellen sowie bei kleineren und mittleren Unternehmen diagnostiziert. Der Stand der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung hinkt weit hinter dem her, was in anderen Ländern, wie denen Skandinaviens, aber auch in asiatischen Schwellenländern, bereits Standard ist. Bürokratische Hürden und extrem lange Planungshorizonte zusammen mit einer Fülle daten- und umweltrechtlicher Einspruchsrechte wirken zwar auch bei physischen Investitionen beispielsweise in die Infrastruktur lähmend. Verstärkt werden sie aber in Verwaltung und anderen Diensten durch mangelnde Anreize, fehlende digitale Kompetenz und gelegentlich auch Veränderungsresistenz. Nicht überraschend ist, dass die Investitionsbereitschaft und die für die totale Faktorproduktivität so wichtige Erneuerung von unternehmensinternen Organisationsformen gerade in der Automobilindustrie am größten ist, in der auch der Druck globaler Wettbewerber am stärksten ist. Dienstleistungen, die weniger gehandelt werden, stehen noch im Abseits. Daher kommt auf die neue Bundesregierung die Aufgabe zu, Bundesländer und Kommunen als die Träger öffentlicher Verwaltung sowohl bei der physischen Infrastruktur (wie Investitionen in Glasfasernetze) als auch bei der personellen und organisatorischen Infrastruktur zu unterstützen, ohne dabei die föderale Verantwortung und das Subsidiaritätsgebot anzutasten. 

  1. Chancenungleichheiten einebnen

Die Pandemie hat auf vielen Ebenen Ungleichheiten vertieft: Lockdown und Homeoffice verschärften das Einkommensgefälle zwischen Beschäftigten im Digitalhandel und in personengebundenen Dienstleistungen und auch die Vermögen entwickelten sich auseinander: Während zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kurzarbeit ihre Ersparnisse restlos aufbrauchen mussten, motivierten mangelnde Konsummöglichkeiten die bereits vermögenden Einkommensschichten zu renditestarken Investitionen. Hinzugekommen sind die Effekte der Schulschließungen und die Bildungsungleichheit zwischen Kindern, denen Bildung alternativ über das Elternhaus und über gute IT-Ausstattung vermittelt werden konnte, und den Kindern, die über diesen Rückenwind nicht verfügten. Die alte Bundesrepublik hat anders als andere Länder Übung im Umgang mit Ungleichheit nicht als Erbe aus der Vorkriegszeit in die Nachkriegszeit mitnehmen können und die soziale Marktwirtschaft war auf dem Auge der Ungleichheit eher getrübt. In der ehemaligen DDR wurde dieses Problem schlicht wegdefiniert.

Diesen Befund in aller Deutlichkeit offenzulegen, ohne Angst vor dem Beifall des politischen Gegners zu haben, käme der Glaubwürdigkeit von Bekenntnissen zur sozialen Stabilität und Solidarität, um die uns viele Länder beneiden, sehr zugute. Dass das Erben von Vermögen, das in der Nachkriegszeit der alten Bundesrepublik aufgebaut und von einer Erbschaftssteuer angelsächsischen Zuschnitts (einer Erbnachlasssteuer) verschont wurde, Ungleichheiten zementiert hat, gehört genauso zur Offenlegung wie die Einsicht, dass ein weiteres Wachsen von Ungleichheit soziale Stabilität gefährden kann.

Anstelle schlichter Umverteilung von Marktergebnissen sollte die neue Bundesregierung da ansetzen wo heute die Einkommens- und Vermögensergebnisse von morgen bestimmt werden: in der frühkindlichen und frühschulischen Bildung. Da diese Ländersache ist, wäre ein Konsens mit allen Ländern darüber herzustellen, dass eine massive Investitionsoffensive in die physische, personelle und finanzielle Infrastruktur von frühkindlicher und frühschulischer Bildung im gesamtsozialen Interesse unbedingt vonnöten ist. Dazu gehört zwingend die Einbeziehung der Eltern, denen dafür ebenfalls eine adäquate digitale Infrastruktur zur Seite stehen sollte. 

  1. Den USA folgen und Chinas wirtschaftliche Dynamik weiter nutzen

Die vier oben diskutierten Herausforderungen sind in drei langfristige wahlperiodenübergreifende Aufgaben für eine neue Bundesregierung eingebettet: die geopolitische, die ökologische und die demografische. Die geopolitische Aufgabe im Wettbewerb zwischen westlichen Demokratien und den autokratischen Regimen Chinas und – mit Bedeutungsabstand – Russlands besteht salopp formuliert darin, sich zu waschen, aber möglichst wenig nass zu machen. Konkret: Mit der neuen amerikanischen Regierung unter Joe Biden und dem unbeirrbaren Festhalten Chinas am eigenen Kurs der Unabhängigkeit vom Westen ist die Vision von einer wirtschaftlichen Äquidistanz Deutschlands zwischen den USA und China geplatzt. 

So wichtig China als größter Handelspartner Deutschlands (nach Summe der Exporte und Importe) und als Produktionsstandort vor allem für die deutsche Automobilindustrie ist (ein Viertel ihrer gesamten ausländischen Direktinvestitionen befindet sich in China), so sehr mahnt der jüngste Fünfjahresplan Chinas, dass die dortige Regierung einen möglichen Kontrollverlust der KP durch weitere Weltmarktorientierung seiner Unternehmen unbedingt vermeiden möchte. Das bedeutet für Deutschland, dass der Exportmarkt China zunehmend durch den Produktionsstandort China ersetzt wird. Gegenüber Direktexporten ist dies von Nachteil, weil die Unternehmen bei Produktionen vor Ort stärker den politischen Zielen der KP und unternehmerischen Risiken wie erzwungener Technologietransfer ausgesetzt sein werden. 

Auf eine Verrechtlichung dieses Wandels vom Exportmarkt zum Produktionsstandort setzte das vor allem von der Bundesregierung in ihrer EU-Präsidentschaft forcierte EU-China Investitionsabkommen, das das Europäische Parlament aber im Mai vorerst gestoppt hat. Wegen der unüberbrückbaren Gegensätze zum Schutz von Menschenrechten wird es sehr wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht ratifiziert werden. Damit wird auch ein Konfliktpunkt mit den USA ausgeräumt, die einseitige Vereinbarungen mit China ablehnen und auf konzertierte Aktionen des Westens setzen. Eine neue Bundesregierung wird dieses Abkommen höchst wahrscheinlich nicht mehr priorisieren. Vielmehr wird sie zum einen wirtschaftlich die Definition Chinas als strategischer Rivale betonen (beispielsweise durch Kontrolle chinesischer Investitionen in Deutschland auf Vereinbarkeit mit Sicherheitszielen oder durch das neue EU-Programm „anti-coercion“ gegen wirtschaftliche Erpressung). Zum anderen wird sie auch politisch und militärisch dem Wunsch der USA und der NATO-Führung folgen, im Indopazifik mehr Präsenz zu zeigen und die Menschenrechtskontroverse mit China auszutragen. Dass sie damit deutschen Unternehmen in China das Leben nicht leichter macht, wird sie ebenso beachten müssen wie die Tatsache, dass die neue amerikanische Regierung weder freihändlerisch ausgerichtet ist noch bereit sein wird, der Bundesrepublik wirtschaftspolitische Freiräume in der Energieversorgung gegenüber Russland und in der 5G-Technologiepolitik gegenüber China einzuräumen. 

Geopolitisch hat die amerikanische Regierung einen klaren Graben gezogen und der EU zunächst mit Zuckerbrot (Aufhebung von Strafzöllen im Airbus/Boeing-Streit, Rückkehr zum Pariser Klimaschutzabkommen, Duldung der Gaspipeline Nord Stream 2) den Weg zurück in die transatlantische Komfortzone geebnet. Die EU-Partner, die Deutschlands Exportstärke auf dem chinesischen Markt verglichen mit den geringeren Erfolgen ihrer Unternehmen gelegentlich auch als Export von Arbeitslosigkeit kritisiert haben, werden diese Rückkehr begrüßen – vor allem dann, wenn sich diese auch konkret in neuen Lieferketten niederschlagen würde. Dass jede amerikanische Regierung jedoch auch die Peitsche kennt und in bilateralen Wirtschaftsverhandlungen grundsätzlich „hard ball“ spielt, wird auch eine neue Bundesregierung wissen. 

Gegenüber Russland dürfte eine deutsche Regierung nie den Dialog zum wichtigen Energielieferanten abreißen lassen, auch dann nicht, wenn fossile Energieträger durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Dabei gibt es zwei Entwicklungen, die einer neuen Regierung bessere Verhandlungsoptionen eröffnen könnten als der alten: Der augenscheinliche Niedergang des belarussischen Lukaschenko-Regimes, dessen finanzielle Stützung Russland durch weitere EU-Sanktionen immer teurer kommt, und der Niedergang der BRICS-Gemeinschaft in ein China-Russland-Zweckbündnis, in dem China wirtschaftlich wie politisch eindeutig dominiert und Russland zum Juniorpartner degradieren könnte.

  1. Das Ziel der Klimaneutralität verstetigen

Die ökologische Herausforderung bemisst sich an Dekaden, nicht an der Länge einer Legislaturperiode, einem entsprechend zeitlich limitierten Koalitionsvertrag oder kurzfristigeren Erwartungshorizonten der Politik. Die Zielmarken sind einer künftigen Bundesregierung bekannt: international durch das Pariser Abkommen, national durch das mahnende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Vorsorge für den Schutz künftiger Generationen vor den Folgen des Klimawandels zu treffen, und zuletzt auch durch das verschärfte Klimaschutzgesetz der alten Regierung vom Juni 2021. In diesem Gesetz werden das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 und im Zeitablauf schärfer werdende Emissionsreduktionsziele auf dem Weg zur Klimaneutralität verankert. 

Eine neue Regierung wird nicht umhinkommen, die beiden wichtigsten Preissignale gegen den Klimawandel, den CO2-Preis und das erlaubte Schadstoffvolumen durch den Emissionshandel, für jeden Einzelnen fühlbarer und damit schmerzhafter aufzustellen. Dabei werden sowohl industriepolitische Interessen als auch verteilungspolitische Kompensationswünsche eine große Rolle spielen. Großverschmutzer werden Aufschub und Subventionen fordern, Geringverdiener finanziellen Ausgleich. Aus ökonomischer Sicht spricht vieles dafür, dass eine Regierung so viel wie sie politisch durchsetzen kann, in Grundlagenforschung investiert, in der Schadstoffe zu Rohstoffen werden, und so wenig an branchen- oder produktspezifische Subventionen vergibt, wie sie politisch durchsetzen kann. Kompensatorische Hilfen sollten nicht, wie die Pendlerpauschale, regressiv wirken, indem sie die Bezieher höherer Einkommen stärker entlasten als die Geringverdiener, sondern sich am Einkommen und nicht am Mobilitätsprofil von Menschen orientieren. Dabei wird der Ausbau der Produktion erneuerbarer Energien in Deutschland eine in kurzer Sicht unerfreuliche Nebenwirkung haben: Flächenfraß durch Solar-und Windparks und damit Preiserhöhungen für die nicht vermehrbare Ressource Land. Indem die Pendlerpauschale die Zersiedlung befördert, verstärkt sie zudem den Wettbewerb um Land. 

Auf verteilungspolitische Konflikte, die aus der Spekulation um Land erwachsen, sollte eine Regierung vorbereitet sein. Immerhin ist der Weg zu klimaschonenderen Technologien durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz nicht gleichzusetzen mit dem Weg zur De-Materialisierung. Die Nachfrage nach strategischen Rohstoffen wie Seltenen Erden und Coltan, die sehr ressourcenintensiv produziert werden, wird drastisch ansteigen, ebenso der Bedarf an Strom durch den steigenden Bedarf an Daten und an zu kühlende Rechen- und Datenspeicherzentren. Dabei wird es für das Weltklima kaum eine Rolle spielen, ob sich diese Nebenwirkungen innerhalb oder außerhalb deutscher Grenzen zeigen. Sie machen aber auf die massiven Zielkonflikte und auch die kaum kurzfristig erfüllbaren Erwartungen aufmerksam, die die ökologische Herausforderung einer neuen Regierung auferlegen wird. Sie sollte sie möglichst gesamtwirtschaftlich, aber nicht mit tief disaggregierten und daher bürokratieintensiven Sektorvorgaben an die Emissionsreduktion angehen.

  1. Keine Kopf-in-den-Sand Politik bei der demografischen Herausforderung

Die demografische Herausforderung massiv zunehmender Alterung gleicht einer Bombe mit einer langen Zündschnur. Die Länge der Schnur ist aber kürzer als vielfach erhofft, denn zum Ende der kommenden Wahlperiode werden die ersten Jahrgänge der Babyboomer der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts in den Vorruhestand gehen. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums spricht in einem Gutachten vom Juni 2021 schockartige steigende Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung an. Die beiden „Haltelinien“ (garantiertes Rentenniveau und nach oben gedeckelte Beitragsgrenze) könnten ab 2026 brüchig werden, sodass stark steigende Zuschüsse aus Steuermitteln oder ein sinkendes Rentenniveau bevorstünden. Die Vorschläge des Beirats, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln, wurden durchgängig verworfen und mit teilweise abenteuerlichen „Argumenten“ (steigende Gesamtbevölkerungszahl) zurückgewiesen. Es ist offensichtlich, dass Einwanderungszahlen auf dem bisherigen Niveau diese Herausforderung keinesfalls entschärfen können und bisherige Anreize wie das Ehegattensplitting den Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung nicht steigern, sondern Frauen nach wie vor von einer stärkeren Integration in den Arbeitsmarkt abhalten. Eine neue Bundesregierung darf auf die vom Beirat fundiert vorgetragene Sorge nicht mit einer „Kopf-in-den Sand“-Reaktion antworten. Dies würde das Versicherungsprinzip schwächen, weitere Steuerzuschüsse in die Rentenversicherung zur Folge haben und somit Mittel einer investiven und für die Zukunft der Jüngeren so wichtigen Verwendung entziehen. 

Schlussfolgerungen

Eine neue Bundesregierung wird die Wechselbeziehungen zwischen den sieben diskutierten Herausforderungen in ihre Politik einbeziehen müssen. Was isoliert betrachtet erfolgversprechend erscheinen mag, kann unter Einbeziehung der Auswirkungen auf die anderen Herausforderungen kritischer zu bewerten sein. Eine Konzentration auf wenige Prioritäten sollte dem Verheddern im Detail vorgezogen werden. Das ist leichter hingeschrieben als in den Verhandlungen um einen Koalitionsvertrag, der ein konkretes Verfallsdatum hat, nämlich das Ende der Legislaturperiode, zu erreichen ist.  Eine staatsmännische Leistung wäre, der Versuchung zu widerstehen, die für die Bürgerinnen und Bürger schmerzhaften Maßnahmen einfach „Brüssel“ anzulasten, nur um die Wohltaten und Zuwendungen für die eigene Regierung vereinnahmen zu wollen. Das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge die Ebene die Aufgaben übernehmen und dafür auch Einnahmen erhalten sollte, die sie am besten erfüllen kann, sollte unbedingt sowohl zwischen der Bundesregierung und der EU als auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen beachtet werden. Der Einstieg in eine wahre Steuerreform, in der die indirekte Besteuerung (von Transaktionen) gegenüber der direkten Besteuerung (von Einkommen) an Bedeutung gewinnen sollte, wäre eine Glanzleistung: oft angesprochen, nie umgesetzt. 

An der Eigernordwand im Winter steht die nächste Bundesregierung nicht, aber das Bild vom Betasten des Elefanten mit verbundenen Augen wird dennoch Gültigkeit behalten, zumal sich der Elefant bewegt. Gemessen an anderen Ländern ist Deutschland mit vielen vernünftigen Koalitionsoptionen aber in einer guten Ausgangslage, sowohl kurz- als auch langfristige wirtschaftliche Herausforderungen anzugehen und aus verschiedenen Teilbildern des Elefanten ein Gesamtbild zu zeichnen, das Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich stimmig und daher akzeptabel finden. 

 

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