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Das Zollrecht begrenzt den Spielraum. Auch nach dem Brexit müssen die Regeln von EU und WTO beachtet werden

20.06.2017
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Michael Lux

Carl Spitzweg Die ppstliche ZollwacheCarl Spitzweg: Die päpstliche Zollwache. Foto aus: Joachim Nagel: Carl Spitzweg: Belser, Stuttgart 2008, S. 52, via Wikimedia Commons

 

Einleitung

Am 29. März 2017 hat die britische Regierung der EU mitgeteilt, dass das Vereinigte Königreich (United Kingdom, UK) beabsichtigt, aus der Union auszutreten. Damit hat die Frist für die Verhandlungen über die Bedingungen des Austritts und die Regelung der künftigen Handelsbeziehungen zu laufen begonnen, die grundsätzlich am 29. März 2019 endet. Mit einem White Paper vom Februar 2017 hat die britische Regierung versucht, die Debatte über die künftigen Beziehungen des UK sowohl zur Europäischen Union als auch zu anderen Ländern zu ordnen. Mit Blick auf die EU wurde das Ziel formuliert, eine neue strategische Partnerschaft zu vereinbaren, deren integrale Bestandteile ein ehrgeiziges und umfassendes Freihandelsabkommen sowie eine neue Zollvereinbarung sein sollen. Trotz dieser Festlegung werden im Folgenden sowohl die praktischen Konsequenzen eines Freihandelsabkommens als auch alternative Möglichkeiten einer Neugestaltung der Beziehungen aufgezeigt. Der grundsätzliche Rahmen wird dabei von den Regeln der WTO bestimmt. Die Veränderungen, die der Brexit im Leben von Bürgern und Unternehmern zur Folge haben wird, lassen sich mit Blick auf die Zukunft der Grenze zwischen Irland und Nordirland veranschaulichen – eine Grenze, die jahrzehntelang gewaltsam infrage gestellt wurde. Die Befriedung des Nordirlandkonflikts durch das Karfreitagsabkommen von 1998 war vor allem auch deshalb möglich, weil die EU ein gemeinsames Dach bot. Zwar hat die Regierung in London erklärt: „When the UK leaves the EU we aim to have as seamless and frictionless a border as possible between Northern Ireland and Ireland, so that we can continue to see the trade and everyday movements we have seen up to now.” 1 Wie die Umsetzung dieser Absicht tatsächlich gelingen soll, ist mehr als fraglich, da der vom UK beabsichtigte Austritt aus der EU-Zollunion und aus dem Binnenmarkt (in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist), mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen für Personen und Waren verbunden ist.


Der Zeitplan

Der Austritt eines Mitgliedstaates aus der EU ist im Artikel 50 des EU-Vertrages (EUV) geregelt. Er sieht die Aushandlung eines Austrittsabkommens (sogenannte Scheidungsvereinbarung) sowie eine Regelung über die künftigen Beziehungen vor, aber wenn innerhalb von zwei Jahren kein Übereinkommen vereinbart werden kann, findet der Austritt trotzdem statt, es sei denn, die Frist wird einstimmig verlängert.2 Michel Barnier, Beauftragter der EU-Kommission für die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, versteht diesen Austritt als einen Prozess mit den drei Phasen Rückzug, Übergang, neue Beziehung.3 Für ein Abkommen ist eine Vielzahl an Sachfragen und Vereinbarungen zu verhandeln, bis hin zur Übertragung behördlicher Zuständigkeiten für Fischereirechte oder für die britischen Landwirte, die bislang Forderungen an den Europäischen Landwirtschaftsfonds geltend machen können.

Die EU strebt ebenso wie die Regierung des Vereinigten Königreichs eine reibungslose Übertragung der Aufgaben und Pflichten an. Da der Brexit aber bereits zwei Jahre nach der Austrittserklärung in Kraft tritt, steht für die Verhandlungen ein noch kürzerer Zeitraum zur Verfügung – sie müssen gegen Oktober 2018 beendet werden, damit genügend Zeit bleibt, die Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie des Europäischen Rats einzuholen. Angesichts der bereits verlorenen Zeit ist es unwahrscheinlich, dass dieser Zeitplan eingehalten werden kann, in Bezug auf die Aushandlung eines Freihandelsabkommens (die erfahrungsgemäß mehrere Jahre dauert) ist dies ausgeschlossen, sodass auch Übergangslösungen diskutiert werden müssen. Dieser enge Zeitplan hat Gus O’Donnell, der für mehrere britische Regierungen als hoher Beamter tätig war, vorschlagen lassen, dass das UK zunächst symbolisch aus der EU austreten könnte, um das abschließende Abkommen dann in Ruhe auszuhandeln.4

Da der Austrittsprozess am 29. März 2017 förmlich eingeleitet worden ist, stellt sich die Frage, ob es möglich ist, diesen Schritt rückgängig zu machen. Während Andrew Duff in einem Kommentar die Position vertritt, dass das UK von dieser Austrittserklärung nicht einseitig zurücktreten kann,5 lässt sich mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass es bis zum Ablauf der Frist berechtigt ist, den Antrag zurückzunehmen (Exit from the Brexit bzw. Breversal).

Die WTO-Regeln: Rettungsleine für die britischen Wirtschaft?

Das Vereinigte Königreich strebt mit dem Austritt aus der EU an, frei zu sein in der Gestaltung seiner Handelsbeziehungen mit anderen Ländern. Der Rahmen für diese Gestaltungsfreiheit – auch in Hinblick auf ein Freihandelsabkommen mit der EU – ist allerdings bereits festgelegt aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Bislang gehört es ihr zweifach an, als Staat und als Mitglied der EU. Es ist – obwohl auch diese Frage diskutiert wird – davon auszugehen, dass es nach dem Brexit automatisch WTO-Mitglied bleibt.6

Mit dem Austritt aus der EU und damit aus der Zollunion ändert sich die britische Stellung allerdings fundamental, beide Seiten (ebenso wie Drittländer) können sich dann – auch ohne Austritts- und/oder Freihandelsabkommen – auf die den WTO-Mitgliedern zustehenden Rechte berufen. Der Grundsatz der Meistbegünstigung (Art. I und II GATT) verpflichtet WTO-Mitglieder, gegenüber anderen WTO-Mitgliedern keine höheren Zollsätze anzuwenden als diejenigen, die im Rahmen der WTO vereinbart wurden oder die gegenüber Drittländern angewendet werden (das heißt die Regelzollsätze). Unzulässig sind ferner Diskriminierungen zwischen den WTO-Mitgliedern, wobei zu beachten ist, dass die EU-Mitgliedstaaten als Mitglieder einer Zollunion laut einer GATT-Ausnahmeregelung (Art. XXIV GATT) günstigere beziehungsweise keine Zölle untereinander anwenden dürfen (weitere Ausnahmen betreffen Mitglieder einer Freihandelszone sowie Antidumping- beziehungsweise Ausgleichszölle gegenüber Ausführern beziehungsweise Ländern, deren Ausfuhren gedumpt oder subventioniert sind).

Mit dem Brexit muss das Vereinigte Königreich seinen eigenen Zolltarif festlegen. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein sehr aufwändiges Verfahren; bei Abweichungen (im Sinne höherer Zollsätze) vom Gemeinsamen Zolltarif der EU (GZT) werden die WTO-Mitglieder (zu denen auch die EU gehört) Ausgleichsverhandlungen verlangen und können Gegenmaßnahmen ergreifen. Um Probleme zu vermeiden, bestehen für eine Übergangsphase verschiedene Möglichkeiten:


1. das UK erhebt keine Zölle (Singapur-Modell);
2. das UK erhebt geringere Zölle als die im GZT festgelegten und mit der WTO vereinbarten Zölle;
3. das UK bleibt vorerst in der EU-Zollunion und wendet trotz des Austritts weiterhin den GZT an, müsste dazu allerdings mit dieser ein Abkommen abschließen (Monaco-Modell); die EU könnte eine Beteiligung an den Kosten für die Nutzung ihrer IT-Zollsysteme verlangen (eine Variante zur Vermeidung von Zollgrenzen zwischen Irland und Nordirland läge darin, dass nur Nordirland in der Zollunion verbleibt; für das restliche UK müsste dann ein Zolltarif festgelegt werden);
4. das UK legt seinen Zolltarif weitgehend in Anlehnung an den GZT fest – diese letzte Variante ist die wahrscheinlichste.

 

Es existieren keine Regeln dafür, wie sich die Einbindung des Vereinigten Königreichs in das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) nach dem Austritt aus der EU gestalten wird. Die EU hat alle ihre zollrechtlichen Vereinbarungen als Gesamtheit und nicht für ihre einzelnen Mitgliedstaaten getroffen. Es handelt sich insbesondere um die Liste der gebundenen Zollsätze und den Umfang von Zollkontingenten. Die Ermittlung des vom UK zu übernehmenden Anteils an den EU-Zollkontingenten bereitet dabei besondere Probleme. Es genügt nicht, den Einfuhrumfang der in das UK importierten Waren zu ermitteln, denn


1. können für das UK bestimmte Waren auch in einem anderen Mitgliedstaat (zum Beispiel Niederlande) in den freien Verkehr überführt worden sein (was in Zukunft nicht mehr möglich sein wird) und
2. können in Zukunft auch Exporte aus der EU auf das britische Zollkontingent angerechnet werden, was den Anteil der übrigen WTO-Mitglieder schmälert.
Für die EU-Zollkontingente gilt dies entsprechend.
Die Lieferländer werden diese Gelegenheit nutzen, um eine Erhöhung der Zollkontingente und andere Konzessionen (zum Beispiel wegen der Verkleinerung des Binnenmarktes) zu verlangen. Die EU könnte dies mit dem Argument abwehren, dass die EU seit 1994 sieben Mal erweitert wurde, sodass der Brexit schon längst kompensiert sei.

 

Für die zukünftige Einzelmitgliedschaft des UK in der WTO sind verschiedene Szenarien denkbar, die entweder wesentliche Probleme vermeiden, Unsicherheiten bergen und umfangreiche neue Verhandlungen erforderlich machen: Entweder würde das UK Teil der EU-Zollunion bleiben (Monaco-Modell), mit ihr eine Zollunion bilden (türkisches Modell ohne die vielen Ausnahmen), auf autonomer Basis dem europäischen Zolltarif folgen oder alle Zölle abschaffen (Singapur-Modell). Die Nachteile des Monaco- und türkischen Modells für das UK lägen darin, dass es ohne eigenes Mitspracherecht die EU-Regeln nachzuvollziehen hätte. Diese könnten aber zumindest in einer Übergangsphase genutzt werden, um in Ruhe mit anderen WTO-Mitgliedern zu verhandeln. Das Singapur-Modell hat den Nachteil, dass das UK sich mit einer Aufhebung von Zöllen nicht mehr vor billigen Importen schützen könnte und in Bezug auf Zölle keine Verhandlungsmasse für Freihandelsabkommen hätte. Aber nicht einmal die Übernahme der EU-Zölle auf autonomer Basis wäre eine leichte Übung: Zunächst müssten überhaupt erst einmal entsprechende Gesetze erlassen und dann die WTO überzeugt werden, dass die eigenen neuen Zölle im Einklang mit den bisherigen Verpflichtungen stehen. Die bestehenden Antidumping- und Ausgleichszölle der EU könnte das UK nicht übernehmen, weil diese im Hinblick auf eine Schädigung der Unionshersteller festgelegt worden sind, während das UK eine Schädigung der UK-Hersteller untersuchen müsste (die EU braucht ihre Antidumping- und Ausgleichszölle nur in denjenigen Fällen zu überprüfen, in denen der Anteil der UK-Hersteller einen maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis hatte).

Die künftigen Beziehungen zur EU

Das UK und die EU könnten sich voneinander trennen, ohne ein Abkommen abzuschließen. Ihre Handelsbeziehungen würden dann einzig und allein durch die WTO-Regeln bestimmt. Auf der anderen Seite des Spektrums der Möglichkeiten stehen das Monaco- und das türkische Modell, also die weitere Mitgliedschaft in der EU-Zollunion oder die Gründung einer gemeinsamen Zollunion (Letzteres ist bis zum 29. März 2017 wegen der Verhandlungsdauer nicht mehr möglich). Die Realisierung eines dieser Modelle ist ebenso unwahrscheinlich wie die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum (Norwegen-Modell) oder der Abschluss zahlreicher paralleler Abkommen (Schweizer Modell) – stets wären die Regeln der EU ohne eigene politische Mitsprachemöglichkeit zu übernehmen. Auch vonseiten der EU gilt das Schweizer Modell nach den bisher gesammelten Erfahrungen als nicht erstrebenswert.

Damit rückt ein umfassendes Freihandelsabkommen in den Fokus (wie zum Beispiel das Abkommen mit Kanada oder Singapur). Sollte es ein sogenanntes gemischtes Freihandelsabkommen werden, mit dem Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten berührt werden, müssen diese auch einzeln zustimmen. Das Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur hat hierzu festgelegt, welche Rechtsmaterien in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen und für welche Themen eine Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Gesetzgebung erforderlich ist, nämlich ausländische Investitionen und die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten.7

Die Ankündigung im White Paper, „an ambitious and comprehensive free trade agreement“ mit der EU anzustreben, bedeutet, dass nur Waren, die in der EU und im UK hergestellt worden sind, zollfrei sein werden (was mit Ursprungsnachweisen belegt werden muss); Produkte, die in Ländern hergestellt worden sind, mit denen die EU und das UK ein Präferenzabkommen (EFTA; Euro-mediterrane Partnerschaft) vereinbart haben, könnten in diese Zollpräferenzen einbezogen werden, wenn auch mit diesen Ländern eine sogenannte Kumulierung vereinbart wird. Selbstverständlich ist diese Lösung insgesamt weniger weitgehend als der derzeitige Marktzugang für Produzenten und Händler innerhalb der EU. Zum Zeitpunkt des Brexits werden Freihandelsabkommen mit Drittländern aber noch nicht vorliegen, sodass UK-Exporteure ihren präferenziellen Marktzugang erst einmal verlieren und sich gegenüber EU-Wettbewerbern im Nachteil befinden werden. Außerdem liegt gegenüber einer Teilnahme am Binnenmarkt ein weiterer Nachteil von Präferenzabkommen darin, dass vorgelegte Präferenznachweise sich nachträglich als falsch erweisen können (zum Beispiel weil das Erzeugnis oder ein wesentlicher Teil aus China stammt) und dann der Zoll für alle Einfuhren solcher Waren für drei Jahre (bei Betrug sogar länger) nachträglich erhoben werden, obwohl die Waren bereits an die Kunden im Inland verkauft wurden und diese Kosten deshalb nicht auf die Kunden abgewälzt werden können.

Beispiel: die Grenze zwischen Irland und Nordirland

Die beschriebenen zollrechtlichen Auswirkungen des Brexits werden – sogar bei Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem UK – die Grenze zwischen der Republik Irland, einem EU-Mitgliedstaat, und Nordirland als Teil des UK wieder sichtbar und damit verstärkt in das Bewusstsein der Menschen in beiden Teilen der Insel rücken lassen. Zwar wäre es theoretisch denkbar, dass Nordirland Teil der EU-Zollunion bleibt oder Irland und Nordirland eine Zollunion bilden. Aber die Folge wäre, dass dann eine Zollgrenze innerhalb des UK entstehen würde.

In dem Moment also, in dem der Brexit rechtswirksam wird, müssen an der irisch-nordirischen Grenze – zumindest an Übergängen für den kommerziellen Warenverkehr – wieder Gebäude für die Zollabfertigung vorhanden sein, an anderen Übergängen zur Kontrolle und Abwehr von Schmuggel Kameras installiert und auf beiden Seiten Personal eingesetzt werden, das den Grenzverkehr und die Einhaltung der Zollbestimmungen überwacht. Ähnliches wird auch für den Fährverkehr zwischen Irland und Wales, England und Kontinentaleuropa sowie den Eurotunnel gelten. Von diesen Kontrollen werden nicht nur Unternehmer, sondern auch die Bürger betroffen sein. Denn Privatpersonen können Waren nur noch in begrenzter Menge zoll- und steuerfrei über die Grenze bringen (im Wert von bis zu 300 Euro, für Alkohol und Tabak gelten Einschränkungen). Privatpersonen werden ihre bisherigen grenzüberschreitenden Einkaufsgewohnheiten überdenken müssen. Um sicherzustellen, dass die EU-Regeln für Mehrwertsteuer, Zoll und sonstige Abgaben eingehalten werden, wird der Zoll auf EU-Seite stichprobenweise Kontrollen privater Personen und der LKWs durchführen, was – nach Erlass der entsprechenden Gesetzgebung im UK – auch auf englischer Seite zu erwarten sein wird. Die Zollverwaltung wird außerdem prüfen, ob mit den Einfuhren gegen Verbote oder Beschränkungen verstoßen wird. Diese betreffen etwa den Import von Munition, radioaktiven Stoffen und jugendgefährdenden Schriften; außerdem sind Bestimmungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit, der Umwelt, der Tier- und Pflanzenwelt oder von Kulturgütern zu beachten. Einzuhalten ist ferner der gewerbliche Rechtsschutz, also der Schutz vor Marken- und Produktpiraterie. Diese Grenzformalitäten werden die Kosten für Unternehmen erhöhen, mit der Einfuhr von Waren aus dem Vereinigten Königreich werden zudem Sicherheitsleistungen fällig, unter Umständen müssen Zolllager betrieben werden. Unternehmen, die bisher nur innerhalb der EU tätig waren und nach dem Brexit Waren aus dem UK importieren oder nach dort exportieren wollen, müssen sich mit einer fast unüberschaubaren Anzahl von EU-Verordnungen und nationalen Regelungen vertraut machen.

Die Formulierung im White Paper, man wolle mit der EU ein „comprehensive, bold and ambitious free trade agreement“ abschließen, bedeutet also nicht, dass der Handel zwischen Irland und Nordirland „frei“ sein wird – er wird nur frei von Importzöllen sein. Auch unter dem Dach eines Freihandelsabkommens werden beim Import die Mehrwertsteuer und sonstige Abgaben fällig. Die Befreiung vom Importzoll gilt zudem nur für Waren, die vollständig in dem Gebiet eines der Vertragspartner hergestellt oder gewonnen wurde – was in der heutigen arbeitsteiligen Welt eher eine Ausnahme ist. Waren, die beispielsweise außerhalb von Nordirland gefertigt (zum Beispiel in China hergestellte Smartphones), oder Waren, deren wesentliche Teile nicht in Nordirland hergestellt wurden (zum Beispiel in China gefertigte Teile einer in Nordirland produzierten Planierraupe), werden bei einer Einfuhr nach Irland nicht vom Importzoll befreit sein. Außerdem wird das Freihandelsabkommen nicht notwendigerweise für alle Warengruppen gelten, für einige könnte die Zollpräferenz nur im Rahmen von Zollkontingenten gelten, wie dies heute schon zum Beispiel für den Import landwirtschaftlicher Produkte aus Norwegen in die EU der Fall ist.

Da ein special deal zwischen Irland und Nordirland rechtlich nicht möglich ist, sollte das Ziel darin bestehen, wenigstens die Zollprozesse und Formalitäten an dieser Grenze so nahtlos und reibungslos wie möglich zu gestalten. So können das UK und Irland eine gemeinsame Grenzzollstelle einrichten, sodass alle, die die Grenze überqueren, nur einmal anhalten müssen; von privaten Personen können mündliche Zollerklärungen akzeptiert werden; mit an der Grenzstation eingebauten Scannern lässt sich vermeiden, dass Waren auf LKWs abgeladen werden müssen; für den zollfreien und zollpflichtigen Grenzverkehr können rote und grüne Fahrspuren eingerichtet werden. Lange Warteschlagen am Grenzübergang lassen sich außerdem durch eine gute IT-Infrastruktur verringern. Sollte UK außerdem dem Übereinkommen über ein gemeinsames Versandverfahren beitreten, könnten Waren vom Abgangsort in Irland zum Bestimmungsort in Nordirland (oder im restlichen UK) ohne Grenzkontrolle befördert werden. Der Republik Irland ist auf jeden Fall anzuraten, zusätzliche Zollbeamte auszubilden, um die EU-Regeln an der Grenze nach Nordirland künftig umsetzen zu können – der hauptsächliche Nutzen des Brexits besteht also in neuen Arbeitsplätzen für Zollspezialisten, Finanzbuchhalter, IT-Experten und Bauunternehmen, während die zusätzlichen Kosten und die Wartezeiten an der Grenze von den Ein- und Ausführern zu (er)tragen sind. Auf UK-Seite besteht die gleiche Situation.

Handelsbeziehungen des UK mit anderen Ländern

Die EU unterhält gegenwärtig eine Reihe von bilateralen oder regionalen Freihandelsabkommen (zum Beispiel mit Norwegen und Island oder auch Südkorea) und von umfassenden Vereinbarungen (Schweiz) sowie Zollunionen mit der Türkei, San Marino und Andorra.8 Zu unterscheiden sind dabei die Abkommen, die allein in die Kompetenz der EU fallen, sowie die gemischten Abkommen. Das UK scheidet mit dem Brexit automatisch aus, da diese eine Mitgliedschaft in der EU voraussetzen, lediglich im Falle eines Verbleibens in der EU-Zollunion käme eine weitere Anwendung dieser Übereinkommen in Betracht. Das UK könnte versuchen, mit den Freihandelspartnern der EU entsprechende Abkommen zu schließen. Außerdem könnte es anstreben, anderen Freihandelsabkommen, denen die EU nicht angehört – Beispiel: Trans-Pacific Partnership Agreement (TPP) – beizutreten oder eigene Freihandelsabkommen aushandeln.

Umstritten ist, ob das UK mit den Verhandlungen bis zum tatsächlichen Austritt aus der EU abwarten muss, weil die EU ausschließlich für die gemeinsame Handelspolitik zuständig ist. Es lässt sich rechtlich dennoch argumentieren, dass das UK als Noch-Mitglied der EU Verhandlungen beginnen darf. Allerdings können ausgehandelte Abkommen frühestens nach dem rechtskräftigen Austritt aus der EU in Kraft treten.

Noch ist nicht abzusehen, mit welchen Staaten das UK eigene Freihandelsabkommen abschließt. Aus Sicht der EU ist allerdings auf Risiken hinzuweisen, die sich durch Abkommen ihrer Partner mit anderen Drittländern ergeben können. Ein Beispiel ist das Abkommen der Schweiz mit China: Häufig ist zu beobachten, dass chinesische Unternehmen Waren zollfrei in die Schweiz importieren und diese dann als Schweizer Produkte zollfrei weiter in die EU exportieren. Das UK könnte ein weiterer zentraler Umschlagplatz für betrügerische Importe aus Drittstaaten werden, sodass die EU mit häufigen Zollkontrollen und mit Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) reagieren müsste. Das UK selbst muss seine Handelsschutzinstrumente (insbesondere gegen Dumping und Subventionen) sowie die entsprechenden Behörden erst noch schaffen, um zu vermeiden, dass seine Landwirtschaft und Industrie Dumping- und Subventionspraktiken von Drittländern schutzlos ausgeliefert ist.

Das künftige Zollrecht des UK

Der gesamte Rahmen für die Ausgestaltung der künftigen Handelsbeziehungen ergibt sich, wie bereits ausgeführt, aus den Regeln der WTO sowie der Weltzollorganisation (World Customs Organization, WCO) und der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (United Nations Economic Commission for Europe, UNECE). Zu beachten ist ferner, dass das künftige Zollrecht nicht die Bestimmungen des GATT verletzen darf, indem die neuen Regeln weniger vorteilhaft gestaltet sind als die bisherigen. Drittländer dürften ohnehin wenig geneigt sein, mit dem UK ein Handelsabkommen abzuschließen, das für sie schlechtere Konditionen enthält als die in den Vereinbarungen mit der EU.

Das UK verfügte vor seinem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft über ein eigenes Zollrecht. Dieses ist inzwischen völlig veraltet, sodass dessen Wiedereinführung nicht in Betracht kommt. Da zu wenig Zeit zur Verfügung steht, bis zum Tag des Austritts ein neues Zollrecht auszuarbeiten, bleibt nur übrig, das Zollrecht der Union als nationales Recht zu übernehmen und dabei die besonderen – die Zollunion betreffenden Aspekte – zu streichen. Dabei handelt es sich insbesondere um die Zusammenarbeit der Zollbehörden untereinander und mit der Kommission, die unionsweite Geltung von Entscheidungen und die Nutzung gemeinsamer IT-Systeme. Darüber hinaus muss das UK seinen Zolltarif und die Zollbefreiungen festlegen.

Um wirtschaftliche Nachteile für das Land und seine Unternehmer zu vermeiden, sollte die Kluft zum EU-Zollrecht nicht zu groß sein; dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Sicherheit der Lieferkette. Außerdem ist eine Reihe von Gesetzen zu erlassen, die über das Zollrecht hinausgehen, für Zoll und Handel aber eine wichtige Rolle spielen. Dazu zählen Regelungen von Verboten, Produktstandards etc. – angesichts des großen Regelungsbedarfes liegt eine Übernahme der EU-Regeln nahe.9 Zu erwägen ist außerdem eine Übernahme der autonomen Zollaussetzungen und Zollkontingente sowie der allgemeinen Zollpräferenzen, die die EU im Einklang mit den WTO-Regeln Entwicklungsländern einräumt. Das UK könnte auch insoweit die EU-Gesetzgebung übernehmen, einschließlich des seit dem 1. Januar 2017 geltenden Selbstzertifizierungssystems „Registrierter Exporteur (REX)“.

Insgesamt ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich, wenn es weiterhin an der Weltwirtschaft beteiligt sein will, keineswegs völlig frei ist – es gelten die Regeln der WTO einschließlich des GATT und zum Abschluss von Freihandelsabkommen wird es nur kommen, wenn auch die Vertragspartner ihren Nutzen darin erkennen können. Vor allem aber werden die zollrechtlichen Vereinbarungen mit der EU entscheidend dafür sein, wie reibungslos und zu welchen Kosten der Handel zwischen britischen Unternehmen und ihren Partnern in der EU in Zukunft ablaufen wird. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass das UK das Zoll- und Zolltarifrecht der EU im Wesentlichen übernimmt; dies wäre auch im Hinblick auf die WTO die beste Lösung. Dennoch wird es mit dem Brexit zu neuen Handelshemmnissen kommen. Für Politiker und Rechtsanwälte wird dies eine Reise in eine rechtliche terra nova. Wie hier gezeigt werden konnte, kann dabei nicht die bestmögliche Lösung (das wäre das Verbleiben in der Zollunion und im Binnenmarkt) erreicht werden, sondern nur eine Situation, in der die unvermeidbaren Erschwernisse auf das mögliche Minimum beschränkt werden.

 

1Policy paper: The United Kingdom’s exit from and new partnership with the European Union White Paper, 2. Februar 2017 (https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/589191/The_United_Kingdoms_exit_from_and_partnership_with_the_EU_Web.pdf, zuletzt aufgerufen am 8. Juni 2017).

2Jean Claude Piris: Which Options Would Be Available to the United Kingdom in Case of a Withdrawal from the EU? 5 (22. Juli 2015). CSF-SSSUP Working Paper No 1/2015 (http://ssrn.com/abstract=2634655, zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2017).

3Tom McTague: Europe’s three-stage Brexit divorce plan. Withdrawal, transition and then a ‘new relationship’, Politico 15. Dezember 2016 (http://www.politico.eu/article/europes-three-stage-brexit-divorce-plan-europe-theresa-may/).

4siehe McTague

5Andrew Duff: Running Commentary IX, Blog-activ.eu, 22. Februar 2017 (http://andrewduff.blogactiv.eu/2017/02/22/running-commentary-ix/?utm_source=POLITICO, zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2017).

6Katrin Fernekeß / Solveiga Palevičienė / Manu Thadikkaran: The Future of The United Kingdom in Europe – Exit Scenarios and Their Implications on Trade Relations, Graduate Institute. Trade and Investment Law Clinic Papers, 2013 53. Genf, 7. Januar 2014 (http://graduateinstitute.ch/files/live/sites/iheid/files/sites/ctei/shared/CTEI/Law%20Clinic/Memoranda%202013/Group%20A_The%20Future%20of%20the%20United%20Kingdom%20in%20Europe.pdf, zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2017).

7Gutachten 2/15 des Gerichtshofs, 16. Mai 2017 (http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=190727&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=772339, zuletzt aufgerufen am 7. Juni 2017).

8Vollständige Liste unter http://ec.europa.eu/trade/policy/countries-and-regions/agreements/#_europe, zuletzt aufgerufen am 8. Juni 2017.

9siehe hierzu den Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 („Blue Guide“), OJ 2016 Nr. C 272,1 (http://ec.europa.eu/DocsRoom/documents/18027/, zuletzt aufgerufen am 8. Juni 2017).

 


Dieser Beitrag stützt sich auf folgende Aufsätze:

Michael Lux / Eric Pickett: The Brexit: Implications for the WTO, Free Trade Models and Customs Procedures - The Parameters and Scenarios for the UK’s Future Trade Relations, Global Trade and Customs Journal 2017, 92.

Michael Lux / Eric Pickett: Customs controls at the border with Northern Ireland after Brexit, Irish Examiner, 6. Februar 2017.

Michael Lux / Peter Scheller: Zollrechtliche Auswirkungen des Brexit für Unternehmen in Deutschland, ZfZ 2017, 54.

Redaktionelle Mitarbeit: Natalie Wohlleben

 

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Ulrich Soltész
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Legal Tribune Online, 3. Februar 2017

 

Nicholas Wright
The government’s Brexit white paper: a missed opportunity
The UK in a Changing Europe (Blog)
17. Februar 2017

 

Lisa O'Carroll
Post-Brexit customs gridlock could choke UK trade, experts warn
The Guardian, 20. Februar 2017

 

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